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Bloß keine Namenlosen.  Die Fokussierung bei Dokus auf Sportstars wie Bastian Schweinsteiger (Amazon Prime) vergisst Alltagsmenschen und ihre einzigartigen Geschichten.

© Amazon Prime

Dokus wie Heiligenporträts: Mensch und Übermensch

Bastian Schweinsteiger, Bill Gates oder sogar Serienkiller Ted Bundy: Viele Dokumentarfilme sind eher Heiligenbilder als Porträts.

Die Kamera strebt himmelwärts, und je kleiner Bill Gates wird, desto größer wird das Podest, auf den ihn dieser Film stellt. Dort geht er hin, das Computergenie, der zweitreichste Mann der Welt, der große Wohltäter und angebliche Weltverschwörer, dort geht er und zermartert sich das brillante Gehirn, wie die großen Menschheitsprobleme zu lösen sind: Seuchen, Umweltverschmutzung, Energieversorgung.

Wer die dreiteilige Netflix-Dokumentation „Der Mensch Bill Gates“ (2019) sieht, muss unweigerlich zu dem Schluss kommen, was für ein feiner Kerl dieses Genie ist. Der Film erinnert ein wenig an einen dreiteiligen Flügelaltar, ein Triptychon, in dessen Zentrum eben Bill steht, der Mensch für alle Menschen, der Menschenmensch und Übermensch.

Gott mag tot sein, Gates jedoch lebt: Ecce homo! Die Apotheose und geradezu religiöse Heilserwartung, die mit Gates betrieben wird, korrespondiert mit einer Monumentalisierung von Biografien, wie sie derzeit überall zu beobachten ist, bei allen Streamingdiensten, aber auch bei den öffentlich-rechtlichen Sendern.

Auch die Heldengeschichte des Fußballstars Schweinsteiger „Schw31ns7eiger: Memories – Von Anfang bis Legende“ (Amazon Prime Video) funktioniert nach dem Prinzip. Unser Held ist zwar bigger than life – und ihr seid mittendrin – aber eigentlich ist „Basti-Fantasti“ auch nur einer von uns. Diese Dialektik gebiert Übermenschen, denn der Star dient zwar uns allen, schwingt sich jedoch dadurch wieder auf zum Herrn, denn die Kunst, über uns allen zu stehen und zugleich im Meer der Masse, gelingt nur solchen Heroen, die schon entrückt sind ins Olymp der medialen Reproduktion.

Mit feuchten Augen sieht man Schweinsteigers Glücksgeschichte. Das ist alles so groß, gelungen und gerade, seine Frau, der Tennisstar Ana Ivanovic, ist blumenschön und juwelenrein, dieses Leben ist so glamourös und doch so geerdet, dass der Zuschauer auf die Knie fällt und dankt: Gut, dass es dich gibt!

Reicher Unternehmer: die Bill-Gates-Doku auf Netflix.
Reicher Unternehmer: die Bill-Gates-Doku auf Netflix.

© Tsp

Gleichzeitig stellt sich jedoch ein beklemmendes Gefühl ein: Ist dieses Leben nur gelebt worden, um dereinst zum Dokumentarfilm zu gerinnen? Gibt es keine Narben, keinen Schmerz, keine Zweifel? Ist der Kosmos Schweinsteiger, der uns hier poliert, pseudointim und so verführerisch authentisch angeboten wird (Produzent: Til Schweiger), wirklich ein ganzes Leben?

Man gewinnt den Eindruck, dass Stars Filme über sich bestellen, beauftragen, dass sie das Genre des Dokumentarfilms kapern, um sich selbst ein Denkmal zu setzen, um ein sehr genau kuratiertes Album ihrer eigenen Existenz auf den Markt zu werfen. Problematisch wird dabei auch die Distanzlosigkeit, die die Filme und Erzähler ihrem Objekt gegenüber einnehmen.

Wie sich Til Schweiger selbst als Freund des Fußballstars in Szene setzt, ist nicht nur beschämend, seine Präsenz in diesem Film erhebt die Einäugigkeit des Freundschaftsblicks auch zum dramaturgischen Prinzip: Journalistisch relevante Informationen, kritische Analysen oder gar ästhetisch autonome Signaturen sind dann kaum noch zu erwarten.

Die Fixierung auf die Prominenz zeigt sich auch in den True-Crime-Formaten. So darf der Serienkiller Ted Bundy noch aus dem Grab seine eigene Geschichte erzählen: „Ted Bundy – Selbstporträt eines Serienmörders" (Netflix). Die vierteilige Miniserie basiert auf Interviews, die ein Journalist mit Bundy in der Todeszelle geführt hat. So führt uns die Stimme des Mörders durch das Porträt und triumphiert sprechend noch einmal über die Opfer.

Die Fokussierung auf geniale Unternehmer, Sportstars, Verbrecher, Politiker oder Royals killt den Alltagsmenschen, das Individuum, das zwar für den Jedermann stehen mag, aber dennoch eine einzigartige Geschichte zu bieten hat. Gerade jetzt, wo in der Pandemie die Alltagshelden mit billigem Applaus abgespeist wurden und die Streamingdienste Rekordzuwächse verzeichnen, ist die Konjunktur der Helden-Hagiografien problematisch.

Verbrecher-Doku auf Netflix: über Ted Bundy
Verbrecher-Doku auf Netflix: über Ted Bundy

© Tsp

Wo bleiben da ARD und ZDF? Müssten sie nicht auch Korrektive sein für solche Deformation des Dokumentarischen? Zeigen sie uns echte Menschen? Ein Film wie „Nachrede auf Klara Heydebreck“ (NDR 1969) wäre heute kaum denkbar.

Damals begab sich der Autor Eberhard Fechner auf die Suche nach einer völlig anonymen Frau. Die Buchhalterin Klara Heydebreck hatte sich mit Schlaftabletten das Leben genommen. Eine Namenlose. Doch Fechner machte die Selbstmörderin ohne Geschichte retrospektiv zu einem Individuum, zu einem Menschen mit Lebenswünschen und Zielen, der von der großen Geschichte hin und her geworfen wurde und letztlich verkümmerte.

Dieser Film barg die Selbstmörderin, verlieh ihr eine Würde und gab ihr eine Biografie, die ihr das Leben vorenthalten hatte. Zugleich schulte der Film den Alltagsblick des Zuschauers, seinen historischen Sinn und die Fähigkeit zur Empathie. Auch Georg Friedels Film „Schillerstraße 3 - 53“ (BR, 1977) ist eine Augenschulung und individuelle Anthropologie, eine Ethnografie des Inlands, die Studie eines Mikrokosmos.

Friedel erkundet das Gesicht der Straße, in der er aufwuchs. Gesten, Gänge, Staub, Hinterhöfe, Müllmänner, kleine Kaufleute oder Bardamen, Menschen ohne Promi-Bonus und Heiligenschein. Das Leben wird durch das Medium noch nicht formatiert, wie es heutzutage von ARD und ZDF betrieben wird, wo die Menschen in ihren Filmen wie eingesperrt und festgesetzt wirken.

In so erfolgreichen Reihen wie „37 Grad“ (ZDF) bestimmen die Schlagzeilen die Schicksale, werden die Biografien nivelliert im Identitätszwang des Formats und im Fluss des Gesamtprogramms.

Selten noch glücken so wunderbare Filme wie Regina Schillings vielfach ausgezeichneter Dokumentarfilm „Kulenkampffs Schuhe“ (ARD, 2018). Hier verwob die Autorin das Leben ihres Vaters mit dem Schicksal solcher Showgrößen wie Hans-Joachim Kulenkampff, Hans Rosenthal und Peter Alexander. Sie entdeckte in den Entspannungsritualen der Deutschen, den Fernseh-Shows, kontaminierte Geschichte. Unter der Aura aus Frohsinn westen Krieg und Grauen fort.

Was diesen Dokumentarfilm neben seiner historischen Sensibilität und seinem subjektiven Erzählansatz besonders auszeichnete, war der ästhetische Eigenwille der Autorin, die ihre Handschrift pflegen konnte.

Doch diese narrative Liberalität ist Mangelware im Programmfluss, der zu illiberalen Formen tendiert und kenntliche Erzählerstimmen unkenntlich macht. Aber gerade jetzt, wo die Übermenschen Dutzendware sind, wo Megastars zum Menschenmaß schlechthin erklärt werden, müssen die Öffentlich-Rechtlichen Gegenbilder zu diesem Gigantismus der Biografien entwerfen.

Den Namenlosen Namen geben, die Würde des unscheinbaren Lebens verteidigen, die Einzigartigkeit des Alltags wieder entdecken, die Menschen in ihren instrumentellen Verschnürungen zeigen und die unverwundbaren Stars ihrer heroischen Aura zu entkleiden: Das wäre der legitime Bildungsauftrag der Fensehsender, zumindest.

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