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Drei Mal 90 Minuten: Der Wald vor lauter Bäumen

Petzold, Graf, Hochhäusler – drei Regisseure, drei Filme, ein Krimi: das Erste wagt das Fernsehexperiment „Dreileben“.

Dass der Krimi im deutschen Fernsehen so beliebt ist, liegt nicht zuletzt an seiner Verortung. „Tatort“, „Polizeiruf“, Kommissar Wallander oder Signor Brunetti, sie alle sind in ganz bestimmten Städten, Provinzen, Landschaften zu Hause. Man erkennt ja gerne was wieder. Der deutsche TV-Krimi ist die Fortsetzung des Heimatfilms im Zeitalter der Mobilität.

„Dreileben“ ist so ein Heimatfilm – und ein ganz besonderes Fernsehprojekt: drei 90-Minuten-Produktionen von drei Regisseuren: Christian Petzold, Dominik Graf und Christoph Hochhäusler. Keine TV-Movies, kein Episodenreigen, keine Variationen des gleichen Plots, sondern sehr verschiedene, verrätselte Geschichten, die rund um ein fait divers zur gleichen Zeit am gleichen Ort angesiedelt sind, im (fiktiven) Ort Dreileben, in Thüringen unweit von Suhl. Eine klare Topographie: bergige Gegend, steil ansteigende Straßen mit eternitverkleideten Häusern, ein Skihotel, ein Wald, ein Krankenhaus, ein See, eine Höhle, eine Autobahnbrücke,

Hier sucht das LKA mit der örtlichen Polizei nach Molesch (Stefan Kurt), einem verurteilten Mädchenmörder, der während eines Kondolenzbesuchs bei der toten Mutter aus dem Krankenhaus flüchtet. Vor dem Hintergrund der Fahndungsaktion spielen alle drei Filme. Martinshörner gellen, Hubschrauber dröhnen, Suchtrupps schicken bellende Hunde los, Blaulicht reflektiert auf Zimmerwänden. Eine latente Bedrohung liegt in der Luft.

Vorangegangen war dem Projekt eine Mail-Korrespondenz, veröffentlicht in der Zeitschrift „Revolver“. Petzold (50), Hochhäusler (39) und Graf (58) gestanden einander die Einsamkeit des Filmemachens zwischen Kunst und Kommerz und stritten sich leidenschaftlich. Graf wirft der „Berliner Schule“ Stilverliebtheit vor, Misstrauen in die Sprache, das Fehlen von Humor. Die Berliner verteidigen das Widerständige ihres Minimalismus und die Verlorenheit ihrer Figuren als Ausdruck der Melancholie eines neuen Bürgertums. Ein kluges, kurzweiliges Filmgespräch: über Genre und Tradition, Filmmusik und Todessehnsucht, Mutlosigkeit und Menschenkenntnis (Zusammenfassung im Forum-Katalog: www.arsenal-berlin.de, Teil 2 komplett: www.revolver-film.de). „Dreileben“ ist die aus diesem Disput hervorgegangene Trilogie, schnell geschrieben und gedreht, realisiert von drei Teams im Auftrag von BR, Degeto und WDR.

Schöne Überraschung: Schon das erste Bild von Teil 1, „Etwas Besseres als den Tod“, reichert Christian Petzold mit einem hohen, sirrenden Geigenton an. Petzold, der Soundtracks scheut wie der Teufel das Weihwasser, macht Filmmusik! Sie grundiert die Liebesgeschichte von Johannes (Jacob Matschenz), dem Sohn aus gutem Hause, der als Zivi in der Klinik arbeitet, und Ana (Luna Mijovic) aus Bosnien. Sie jobbt als Zimmermädchen im Sporthotel, ist den Motorradrockern hörig und träumt vom besseren Leben. Eine scheue, von den sozialen Schranken behinderte, bald aber glückstrunkene Liebe, die im Verrat endet. „Mach Zufall“, sagt Ana, als Johannes den iPod anklickt. Und Julie London singt „Cry Me a River“.

Die Klinik, das Hotel, die Bushaltestelle, der Waldweg zum Ort, die Lichtung am See: Da Johannes und Ana permanent hintereinander her sind, ist der Zuschauer bald mit den Örtlichkeiten vertraut. Suchbewegungen, Nachstellungen, der Augenschein und der Zweifel daran: Petzold lädt die Liebe kriminologisch auf, aber belässt ihr ihre Weltfremdheit. Von der Aufregung um den Mörder bekommen die beiden Liebenden kaum etwas mit. Dabei ist es Johannes, der Moleschs Flucht ermöglicht, ahnungslos setzt er die Geschichte in Gang.

Bei Dominik Graf gewinnt sie an Tempo. In „Komm mir nicht nach“ reist die Polizeipsychologin Jo (Jeanette Hain) an, um die Fahnder zu unterstützen. Sie hat die kleine Tochter bei ihren Eltern gelassen (Lisa Kreuzer und Rüdiger Vogler als wunderbar skurriles altes Paar). In Dreileben wohnt sie in einer halb renovierten Villa bei der Freundin aus Münchner Studientagen (Susanne Wolff) und deren Mann, einem Bestsellerautor. Misel Maticevic, der Mafia-Held aus Grafs TV-Mehrteiler „Im Angesicht des Verbrechens“, ist kaum wiederzuerkennen: Er trägt jetzt Nickelbrille und Bart und gibt schlagfertige Sottisen über Männer und Frauen zum Besten. Bei Rotwein und Risotto finden die Frauen heraus, dass sie denselben Lover hatten, bevor sie sich kannten. Wieder trügt der Augenschein, wieder werden Spuren gelesen, Geheimnisse ergründet, auch bei der Polizei, bei der Jo ein Komplott aufdecken kann.

Ein virtuoser Versuch über jene im Mail-Disput diskutierte Melancholie des Bürgertums, versetzt mit Elementen der Screwball-Komödie. Graf schildert die Unbehaustheit moderner Paare, die sich in ihrer Zweisamkeit einrichten wollen, deren Leben aber eine Baustelle bleibt, mit verschlossenen Türen und einem undurchdringlichen Wald vor der Tür. Im Dickicht der Äste erblickt Jo eines Nachts Moleschs Gesicht.

Christoph Hochhäusler zeigt in „Eine Minute Dunkel“ die Fahndung umgekehrt aus der Warte des Gejagten. Ein Mann allein im Wald, zwischen den Betonpfeilern der Autobahnbrücke, im Höhlenversteck, beim Sturz in die Nacht. Ein tatsächlich Unbehauster, ein Wolfsmensch beinah, der barfuß auf Ameisen tritt und keinen zum Reden hat außer sich selbst. In einer Parallelerzählung misstraut der krankgeschriebene Kommissar (Eberhard Kirchberg) dem Mädchenmordurteil von damals, betrachtet Fotos und Überwachungsvideos, dringt in ein leeres Haus ein, wühlt in der Vergangenheit – und kann die Wahrheit aufspüren. Der Wind rauscht in den Bäumen, Feuer flackert auf, Augen funkeln in der Nacht, aus der Dunkelheit tritt eine tragische DDR-Kindheit zutage. Psychogramm einer existenziellen Verstörung: Hochhäusler dringt bis ins Herz der Finsternis vor.

Die Geschichte einer verratenen Liebe, ein Sittenbild der Provinz, ein Schauermärchen aus dem deutschen Wald: drei Tragödien, drei Geschwindigkeiten, drei Temperamente. Sie alle kreisen um die schicksalhafte Verstrickung von Menschen, die schuldig werden aneinander, um die soziale Heimat, die Wahrnehmung des anderen, die Entfremdung mitten in der Gemeinschaft. Zusammen bilden die Filme einen 270 Minuten langen Krimi, in dem alle etwas verbergen, nicht bloß Molesch im Wald. Ein TV-Krimi, der das Genre an die Tradition der deutschen Romantik und des Märchens rückkoppelt (bei Petzold ist’s „Undine“). Drei Autorenfilme mit Menschenkenntnis, Filmmusik, Todessehnsucht und leichthändigem Humor. Und mit großartigen Schauspielern, allen voran das Ensemble bei Dominik Graf. Und Stefan Kurt, der aus Molesch einen abgründigen Kindlichen macht, ein zutiefst verletztes Seelentier.

Am Ende wird doch noch der Mord begangen, für den Molesch verurteilt wurde. Erst das allerletzte Bild – ein Überwachungsvideo, wie am Anfang bei Petzold – erschließt die ganze Geschichte. Eine raffinierte Konstruktion: Alle drei Teile bleiben dennoch autonome, in sich schlüssige Plots.

Kaum zu glauben, dass die ARD, die sich sonst nichts mehr traut, für dieses große Fernsehexperiment einen ganzen Abend freigeräumt hat und „Dreileben“ in Folge zeigt, unterbrochen nur durch die „Tagesthemen“. Dafür kann man den Sender nur loben. Zumal die En-suite-Ausstrahlung dem Zuschauer das Vergnügen beschert, selber Detektiv spielen zu können. Immer wieder entdeckt man Spurenelemente der jeweils anderen Filme: die Tapetentür, ein Kussmundwerbeplakat, ein Hotelbett ... Auch das ist Fernsehen: ein Medium fürs Déjà-vu, ein Heimatgefühlsgenerator. Wer genau hinschaut, verliert den Wald vor lauter Bäumen trotzdem nicht aus dem Blick.

„Dreileben“, ARD, ab 20 Uhr 15

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