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Fernsehen: Irren ist menschlich

Vox fragt Freiwillige im Edel-Container: „Wie verrückt sind wir?“

Von Caroline Fetscher

So. Da kraulen sich die Experten die Bärte. Zwei Wochen lang beobachten sie auf einem englischen Landsitz zehn Probanden. Fünf der Frauen und Männer gelten als gesund, fünf haben oder hatten eine der typischen Seelenerkrankungen der Moderne: Depression, Sozialphobie, Borderline-Syndrom, Zwangsstörung oder Essstörung. Weder die Teilnehmer noch die drei zu Gutachtern bestellten Psychologen wissen, wer woran litt oder leidet. Vorlage für das bizarre Setting im Luxus-Ambiente, das Vox ausstrahlt, ist ein Experiment von 1972. Damals wollten amerikanische Wissenschaftler nachweisen, wie fließend die Grenzen zwischen Normalität und Geisteskrankheit sind und dass selbst Psychiater nicht fähig sind, die Grenzen klar zu definieren.

In den Zeiten der Fernseh-Container, in denen öffentliche Entblößungsspiele Konjunktur haben, wird hier das Experiment neu aufgelegt, im Edel-Container und mit Freiwilligen „aus allen Schichten“. An den fließenden Grenzen, man ahnt es, hat sich bis heute nichts geändert, und der Triumph von Zuschauern wie Teilnehmern liegt darin, den Psychologen beim Scheitern ihrer Diagnostik zuzusehen. Während Holly, Dan, Yasmin oder Steward alberne Tests über sich ergehen lassen, sich in Unterwäsche fotografieren lassen, einen Kuhstall ausmisten oder im Wäldchen einen militärisch anmutenden „Orientierungslauf“ absolvieren, verfolgen die drei Psychologen das Geschehen. „Jeder hier könnte Bulimie haben“, rätselt Dr. Michael First von der Columbia University. Immerhin, sie kommen Dan auf die Spur, der nach dem Ausmisten lange duscht. „Waschzwang?“ – „Ja!“, freut der sich strahlend. Er sei stolz darauf, tut er kund, das unterscheide ihn von anderen. Präsentiere oder verstecke dein Symptom!, scheint die implizite Botschaft des gesamten Szenarios, das sich als aufklärerisch ausgibt. Es geht nicht um billiges Big-Brother-Entertainment, wo mehr als eine Teilnehmerin erklärt, sie sei dabei, um anderen Kranken zu mehr Selbstbewusstsein zu verhelfen. In den meisten Fällen liegen die Psychologen, die vor allem die Frauen herauspicken, komplett falsch. Vicky ist nicht Borderlinerin, Yasmin auch nicht, Holly nicht depressiv. Irren ist menschlich, Irre sind es ebenfalls. Auch die symptomfixierten Psychologen müssen mit ihrem gekränkten Narzissmus fertigwerden, damit, dass ihre mechanischen Deutungen ohne hinreichende Intuition und Empathie zustande kamen. So erklären sie ihrerseits, zu dieser schönen Erkenntnis über die Irren gerne beigetragen zu haben. Schon Sigmund Freud hatte erkannt, dass das „Unbehagen an der Kultur“ den unlösbaren neurotischen Konflikten der menschlichen Psyche entspringt. Hier nun lässt sich, anhand einer solchen Sendung als Symptom, erkennen, woher das Behagen an solchem Entertainment stammt: Es geht der Frage nach seinen eigenen Motiven systematisch aus dem Weg. Carolin Fetscher

„BBC Exklusiv – Wie verrückt sind wir?“, Vox, 23 Uhr 40

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