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Viele Leichen, Kunstzitate sowie Ulrich Matthes (li. ) und Ulrich Tukur überzeugten die Jury: Der „Tatort – Im Schmerz geboren“ wurde „Bester Film“.

© ARD

Fernsehfilmfestival in Baden-Baden: Pool-Party für große Jungs

Das Fernsehfilmfestival in Baden-Baden ehrt einen „Tatort“, ein DDR-Drama - und flirtende Senioren.

Eine Jury, die vor großem Publikums, das die Kunstschaffenden einschließt, über Werke urteilen muss, hat es schwer. Sie möchte ja die Kreativen nicht kränken, sich im Saal nicht unbeliebt machen. Aber es hilft nichts, neben dem Lob müssen auch die Vorbehalte auf den Tisch, selbst wenn die Macher grollen. In Baden-Baden beim Fernsehfilmfestival, das letzte Woche im Kurhaus tagte, geht es seit jeher derart öffentlich zu. Das gehört zur Tradition dieses von der Deutschen Akademie für Darstellende Künste veranstalteten Events. Entsprechend hoch steigt die Spannung, wenn zwölf Spitzenproduktionen des ablaufenden Jahres vorgeführt und von der Jury diskutiert werden. Am Schluss gibt es Preise.

Jury-Chef Torsten Körner nennt die Veranstaltung eine "offene Beteiligungsgesellschaft", er strebt einen "Trialog" zwischen Jury, Machern und Publikum an. Der runde Saal im alten Casino mit seinen mächtigen Kronleuchtern ist der richtige Ort für so ein Marathon-Spektakel, die fünfköpfige Jury nimmt nach jeder Filmvorführung in roten Fauteuils auf der Bühne Platz.

Es begann mit "Männertreu" (HR), einem Film von Thea Dorn (Buch) und Hermine Huntgeburth (Regie), der uns den Fast-Aufstieg eines Zeitungsbosses (Matthias Brandt) zum Bundespräsidenten zeigt. Der ehrgeizige Herr Sahl ist ein Don Juan, und als eine seiner Affären auffliegt, steht die Frage im Raum: Wäre so einer tragbar als Staatsoberhaupt? Jurorin und Schauspielerin Ulrike Folkerts lobte engagiert diese Version des "Urthemas Sex und Macht", auch der Rest der Jury war angetan. Autorin Dorn berichtete, dass die Affäre Strauss-Kahn am Ursprung der Filmidee gestanden habe.

Es folgte "Clara Immerwahr" (ARD) in der Regie von Harald Sicheritz, das Buch schrieben Susanne Freund und Burt Weinshanker. Der Film erzählt die Geschichte der ersten promovierten Chemikerin in Deutschland (Katharina Schüttler), die mit ansehen muss, wie ihr Mann Fritz Haber Giftgas für die Front des 1.Weltkriegs herstellt. Die Jury fand, dass dies ein gelungenes Bio-Pic sei, stieß sich aber an einer gewissen "Betulichkeit", so Jurorin Beate Langmaack (Drehbuchautorin). Juror Dieter Anschlag, Chefredakteur der Funkkorrespondenz, nannte das Werk gar "didaktisch", und Jurychef Körner assistierte: "Ja, da haben wir Ansätze vormundschaftlichen Erzählens".

Flirten für Senioren - in nur zwei Drehtagen

"Altersglühen" (WDR) von Jan Georg Schütte (Buch und Regie) ist insofern was Besonderes, als bei diesem "Speed-Dating für Senioren" nur ein formaler Rahmen vorgegeben wurde, sonst aber die Schauspieler frei improvisieren konnten. Große Mimen wie Mario Adorf, Michael Gwisdek und Senta Berger ergriffen die Gelegenheit und stürzten sich in helle Spielfreude. Folkerts bewunderte "Kraft, Mut und Spaß" dieser Produktion - und das alles in nur zwei Drehtagen! Macher Schütte aber seufzte: Man habe für den Schnitt ein Jahr gebraucht. Körner: Hier sei ein Freiheitsmoment in die Fernseherzählweise eingezogen, das Interesse verdiene.

Auf die Komödie folgte die Tragödie "Ziellos" vom Schweizer Fernsehen - die Geschichte eines Schul- und Lehre-Abbrechers (Joel Basman), der beim Militär so was wie Heimat erlebt, im Zivilleben aber nicht Fuß fassen kann und zum Amokläufer wird. Körner lobte die quasi-dokumentarische Kühle, die der Film ausstrahle, Jurorin Christiane von Wahlert aber, Geschäftsführerin u.a. der Freiwilligen Selbstkontrolle Filmwirtschaft, meinte, man könne diesen Film auch als Werbeclip für die Schweizer Armee lesen.

"Jeder Tag zählt" (ZDF) von Gisela Zerhau (Regie) und Ruth Thoma (Buch) protokolliert einen Krankheitsverlauf . Der Teenager Lilly hat Leukämie, es geht um Leben und Tod. Im Zentrum: die Mutter (Katharina Böhm), die alles stehen und liegen lässt, um bei ihrem Kind zu sein. Drumrum eine Patchwork-Familie, die am Krankenbett wieder zusammen findet. Für Christiane von Wahlert war da "von allem ein bisschen zu viel - und das heißt Kitsch." Man pries jedoch einhellig die Kamera von Holly Fink.

"Bornholmer Straße" (ARD) von Christian Schwochow (Regie) und Rainer und Heide Schwochow (Buch) bot Geschichtsfernsehen der pointierten Art. In der Nacht des 9. November 1989 stehen überforderte Beamte, allen voran Charly Hübner als Obergrenzer, am Schlagbaum vor ostberliner Massen, die aus dem Fernsehen wissen: Ausreise ist möglich. Der Film ist urkomisch ist, ohne dem Drama des DDR-Untergangs die Wucht zu nehmen. Die tolle Inszenierung der Massenbewegungen wurde von Christiane von Wahlert hervorgehoben, die Tiefendimension von Ulrike Folkerts: "Es ging doch um alles".

Viele Filme sind gut, aber nicht preiswürdig

Im Spreewaldkrimi "Mörderische Hitze" (ZDF) summen die Fliegen um die Gebeine einer zersägten Leiche, ein unseliger Loser (Roeland Wiesnekker) wurde zum Totschläger. Autor Thomas Kirchner war (neben Regisseur Kai Wessel) anwesend und replizierte auf den Vorhalt von Langmaack, man sei krimimäßig zu oft auf falsche Fährten gelockt worden, selbstbewusst, das sei ihm egal, er wolle Pathos und Kunst und Bildgewalt.

"Der Rücktritt" nach Motiven des Abgangs von Ex-Bundespräsident Christian Wulff war die einzige Produktion eines Privatsenders (SAT1) auf diesem Festival und schon deswegen der Beachtung wert. Autor Thomas Schadt erklärte zu seinem Dokudrama: Man arbeite unter Zwängen, man müsse vieles rechtlich klären, man könne nicht drauflos erfinden. Jurychef Körner sprach von "vielschichtigen Verfallsprozessen", die der Film deutlich mache.

Stephan Wagners Film "Zwei allein" (ZDF, Buch: Friedrich Ani) über ein altes Paar (Elmar Wepper, Gundi Ellert) ist eine tragische Ballade mit Krimielementen: Sie ist unheilbar krank, er ihr gütiger Todesengel. Oder? Langmaack: "Nicht alle Fragen nach Liebe und Schmerz, die der Film stellt, beantwortet er." Körner benannte einen "Außerordentlichkeitswillen", der aus dem Film spreche. Wagner am Mikro: "Ich bin stolz auf den Film. Ich will gar nicht alle Fragen beantworten."

"Die Spiegel-Affäre" (ARD) bringt akribisch recherchierte Chronik der jungen Bundesrepublik auf den Schirm, "Hier stimmt jeder Lichtschalter", so Langmaack. Allerdings: "Der Stoff wehrt sich gegen seine Verfilmung." Deshalb sei man auch, so Wahlert, "hinterher nicht sehr viel schlauer". Aber als Duell zweier Kerle, Strauss (Francis Fulton-Smith) und Augstein (Sebastian Rudolph) sei dieser Film von Roland Suso Richter (Regie) und Johannes W. Betz (Buch) gelungen.

Der Tatort "Im Schmerz geboren" (HR) von Florian Schwarz (Regie) und Michael Proehl (Buch) pfeift auf die Konventionen des Genres. Tatort goes Tarantino, es gibt haufenweise Tote und Zitate aus der darstellenden Kunst von Shakespeare bis Truffaut. Ulrich Tukur als Kommissar Murot reist unfreiwillig in seine Vergangenheit und kommt dabei fast um. Das Publikum jauchzte laut nach der Darbietung, auch die Jury applaudierte begeistert, und Körner sprach von einem "Wunder". Bis Beate Langmaack das inzwischen in die Wolken hochgejubelte Werk auf die Erde zurückholte mit den Worten: "Für mich war das nicht mehr als eine Pool-Party für große Jungs" - allerdings eine höchst vergnügliche.

Sogar in den Ersten Weltkrieg lässt sich eine Liebesgeschichte schmuggeln

Zum Schluss lief "Das Attentat. Sarajewo 1914" (ORF/ZDF) von Andreas Prochaska (Regie) und Martin Ambrosch (Buch). Der Ausbruch des 1. Weltkrieges droht, alle wollen ins Feld. Und die Ergebnisse des mit den Ermittlungen betrauten Richters Leo Pfeffer (Florian Teichtmeister) bezüglich des Auslösers all der Säbelrasselei, des Attentats auf den österreichischen Thronfolger, sind, das merkt Pfeffer bald, eine reine Formsache. Der, wie Dieter Anschlag betonte, von Effekthascherei gänzlich unbelastete Kostümfilm erlaubt sich die Freiheit, das Liebesunglück eines Richters in den Kriegsausbruch hineinzuschmuggeln. Immerhin sei es die schönste Liebesgeschichte der ganzen Woche gewesen, da war sich die Jury einig.

Nach langer Beratung in Klausur vergab die Jury den Preis für den besten Film an den Tatort "Im Schmerz geboren", die Auszeichnung für den besten Schauspieler ging an Charly Hübner für seine Rolle in "Bornholmer Straße", und für die Idee und Umsetzung von "Altersglühen" wurde Jan Georg Schütte geehrt.

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