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Medien: Filmarchive: Her mit den Schätzen

Eine Überschrift, die Emotionen weckte: "Neonazis ertränken Kind", so titelte "Bild" am 23. November 2000.

Eine Überschrift, die Emotionen weckte: "Neonazis ertränken Kind", so titelte "Bild" am 23. November 2000. Damit war der "Fall Joseph" in der Welt. 50 Rechtsradikale hätten den Sechsjährigen in einem gut besuchten Freibad in Sebnitz ertränkt, hieß es in dem Bericht. Einen Tag später griffen viele Tageszeitungen das Thema auf, machten einen Verdacht zur Tatsache. Journalistische Gesetzmäßigkeiten schienen außer Kraft gesetzt - anstatt zu recherchieren, abzuwarten und zu prüfen, gingen Behauptungen in Druck. Die Bedächtigen in den Redaktionsstuben konnten sich nicht durchsetzen - gegen die Angst, eine wichtige und aufwühlende Story zu verpassen. Ein Beispiel dafür, so hieß es am Mittwoch in Bonn bei einer Anhörung vor dem Deutschen Presserat, dass die Recherche das "Stiefkind des Medienbetriebs" sei. Selbstkritik war an diesem Tag oft zu hören. Die Anhörung war der Versuch einer ganzen Branche, der deutschen Presse, aus dem Fall Sebnitz für die Zukunft zu lernen.

Hans Leyendecker, Journalist bei der "Süddeutschen Zeitung" und in der CDU-Spendenaffäre einer der besonders erfolgreichen Rechercheure, benutzte bei der Anhörung eine Fußball-Metapher: "Früher", so Leyendecker, "wurde der Ball gestoppt, dann erst kam der gezielte Pass." Heute dagegen setze man auf Pressing, den oft unkontrollierten Sturm aufs gegnerische Tor.

Bernhard Honnigfort von der "Frankfurter Rundschau" (FR) gehörte zu den Bedächtigen. Als "Bild" seine Titelgeschichte veröffentlichte, musste er sich intern hämische Bemerkungen gefallen lassen. Auch Honnigfort hatte Informationen über die Vorgänge in Sebnitz, aber sie schienen ihm nur einen Artikel mit der Überschrift "Versionen eines Todestages" zu rechtfertigen. Er hatte sich für eine Berichterstattung entschieden, die Zweifel an der Mordtheorie zuließ.

Er habe auch an einen Mord geglaubt, bekennt der FR-Korrespondent für Sachsen jedoch freimütig. Schließlich fügte sich alles zu einem stimmigen (Klischee-)Bild: Neonazis, Ostdeutschland, der kleine Joseph mit dem Vater ausländischer Herkunft. Honnigforts erster Gedanke nach der Veröffentlichung durch "Bild": "Was haben die, was ich nicht habe?"

Bei der "taz" verließ man sich auf Indizien, auf Rechtsgutachten und Berichte über drei Jugendliche in Untersuchungshaft. Heraus kam die Überschrift "Badeunfall erweist sich als rassistischer Mord", mit dem sich das Blatt eine Rüge des Presserates einhandelte. "Zu Recht", wie Bettina Gaus von der "taz" meinte. Dass so viele Zeitungen auf den Zug aufsprangen, führt sie auf das schlechte Gewissen der Journalisten zurück. "Vorher waren die rechtsradikalen Untriebe oft nur eine Kurzmeldung wert. Jetzt hatte man etwas Aufsehenerregendes."

Kam mit dem Fall Sebnitz ein Lernprozeß in Gang? Hans Leyendecker beurteilte diese Frage skeptisch: "Man lernt für den Moment. Grundprobleme wie Konkurrenz- und Aktualitätsdruck bleiben." Immer noch werde in Deutschland der gründlichen Recherche zu wenig Bedeutung beigemessen, dafür stünde zu wenig Personal und Geld zur Verfügung.

Mit dem Richtlininen des Presserates, festgehalten im Pressekodex, sei es nicht getan. Er liege nicht wie eine Bibel auf jedem Redaktionstisch. Eine Überlegung wert ist nach Ansicht Leyendeckers die Einführung einer Zeitungsrubrik mit der Überschrift "Korrekturen". Öffentliche Selbstkritik kann der erste Schritt sein, ein ramponiertes Image aufzupolieren.

Rüdiger Strauch

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