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Filmgeschichte: Der Interviewer

Thomas Grimm hat mit etwa 2000 Menschen gesprochen, Zeitzeugen TV heißt sein Werk. Warum ihn das Leben der anderen reizt.

Jeder kennt jeden über sechs Ecken, sagen Wissenschaftler. Für die meisten mag das stimmen, doch gibt es einen in Deutschland, der braucht diese Umwege nicht. Thomas Grimm kennt so viele Menschen wie kaum jemand sonst, und zwar nicht beiläufig, sondern so, dass er genau Bescheid weiß über ihre Biografien, Wege und Wünsche. Mit etwa 2000 Menschen hat der Filmemacher Interviews geführt und daraus ein Archiv namens Zeitzeugen TV aufgebaut, das 2004 die Defa-Stiftung übernahm.

Man kann Thomas Grimm als filmischen Verwalter der deutschen Geschichte bezeichnen. Er hat mit so unterschiedlichen Personen wie Richard von Weizsäcker, Stefan Heym und Hans Werner Henze gesprochen. Und um die, die ihn interessierten, aber nicht mehr lebten, zog er mit seinen Interviews konzentrische Kreise; zu Albert Speer etwa interviewte er Wolf Jobst Siedler und Gitta Sereny. Immer wieder montierte er sein reichhaltiges Material zu Fernsehfilmen: In „Das Politbüro privat“ erzählten Angestellte der SED-Spitze vom Leben in Wandlitz, in „Aufbruch zur Macht“ berichtete Angela Merkel von den ersten politischen Schritten. Zuletzt tat sich der in der DDR aufgewachsene Grimm in seinen Filmen in den Reihen von bundesdeutschen Intellektuellen um: „Frau Walter Jens“ zeigte das Ehepaar Jens und ihren Umgang mit seiner Demenz, Mittwoch läuft im RBB Grimms Film über den Suhrkamp-Verlag.

Doch obwohl Grimm so viele kennt, kennen ihn umgekehrt nur wenige. Er ist kein Name, bei dem die Menschen aufhorchen, nie hat er den Grimme-Preis bekommen, keine Filmhochschule hat ihm einen Lehrauftrag erteilt. So stellt sich die Frage, wer dieser Mann ist und warum er so viel über die Deutschen weiß und sie so wenig über ihn.

Von Grimm selbst darf man darauf keine bündige Antwort erwarten. Er sitzt auf seinem Hof in Planke in der Uckermark, zurückgelehnt in seinem Sessel, der Hahn draußen mag laut krähen, Grimms Sache ist das nicht. Bei ihm gibt es kein Warum-Darum, keine verknappten Reiz-Reaktions-Ketten. „Biografie total“ nennt er seine Interviewmethode scherzhaft, er will nicht nur die dramatischen Zuspitzungen abfragen, sondern das ganze Leben aufrollen, und so muss man sich auch ihm nähern. Gern scheint er über seine Person nicht zu sprechen, das Aufnahmegerät schaut er beim ersten Treffen skeptisch an. Man müsse verstehen, sonst sei er ja auf der anderen Seite.

Die Idee zu seinem Archiv hatte Grimm, 1954 im Erzgebirge geboren, zu Zeiten der Wende. Wenn eine Fassade bröckelt, wird sichtbar, was zuvor verborgen war, dachte er sich und gründete im November 1989 das erste private Filmstudio der DDR. In den kommenden Jahren filmte er all jene, in deren Leben sich zeigte, was das Wort Wende bedeutet. Etwa den Polizisten Ralf Romahn, der an einem Tag Regimegegner verhörte und am nächsten Erich Honecker. Oder Uwe Holmer, den Pfarrer, in dessen Haus Honecker Zuflucht fand. Oder den Machthaber von einst im chilenischen Exil.

Das Filmemachen hatte Grimm in einer Institution erlernt, deren Existenz Walter Ulbricht zu verdanken war. Ulbricht hatte ein Institut gründen wollen, das die Volkswirtschaft mithilfe der Kybernetik sanieren sollte. Vorgesehen war auch eine Filmabteilung. Ulbricht starb, aus dem Institut wurde nichts, so recht verstanden hatte wohl niemand Ulbrichts Idee. Doch die Kameras für die Filmabteilung waren gekauft, die Stellen geschaffen, und eine Planwirtschaft wäre keine Planwirtschaft, wenn sie eine Abteilung, sobald diese einmal existiert, aus ihrem Plan wieder streicht. So kam die DDR 1971 zu einer Staatlichen Filmdokumentation. Weil man nicht wusste wohin mit ihr, wurde sie dem Filmarchiv unterstellt und damit betraut, Filme fürs Archivregal zu produzieren. Was hier entstand, wurde niemals öffentlich gezeigt.

In psychologischen Lehrbüchern findet sich die Unterscheidung zwischen extrinsischer und intrinsischer Motivation. Entweder man tut etwas, um belohnt zu werden, oder man tut es um der Sache willen. Menschen der ersten Art wären in der Staatlichen Filmdokumentation verzweifelt. Thomas Grimm gehört zur zweiten Sorte. Er war glücklich. Als Philosoph mit Parteiausschluss war er froh, Arbeit zu finden, und ein Faible für Film hatte er seit der Teilnahme am Filmclub seiner Schule.

An der Staatlichen Filmdokumentation gab es zwar kein Publikum, aber auch keinen Auftrag als sein eigenes Interesse, keine Zensur, sondern nur eine interne Abnahme, und so machten er und seine Kollegen Filme über Wohnungsnot oder die Zustände in Altenheimen. Wenn Grimm über diese Erzeugnisse redet, spricht er von Dokumenten statt von Filmen – was viel über sein Selbstverständnis verrät. Sie seien sozialwissenschaftliche Filmemacher gewesen, sagt Grimm, wollten nicht künstlerisch verdichten und überhöhen, sondern nur eins: „Einen Istzustand völlig blank auf den Zuschauer loslassen.“

Darin ist sich Grimm treu geblieben. Zeitzeugen TV erscheint wie eine Verlängerung seiner früheren Arbeit. Weiterhin filmt er Menschen, die historischen Phänomenen ein Gesicht geben, weiterhin sind die Kommentare kurz gehalten und die O-Töne lang, wie er es in der Staatlichen Filmdokumentation gelernt hat. Und so hat der Filmemacher, der antrat, um wendebedingte Brüche in Biografien zu zeigen, selbst eine überraschend ungebrochene Biografie.

Mit einem Unterschied: Nur fürs Regal wollte er nach der Wende nicht mehr produzieren und schaffte sich seinen Sendeplatz selbst. 1990 war er unter den Begründern des Fernsehens aus Berlin (FAB) und sendete dort bis 2004 jede Woche ein Zeitzeugeninterview. Außerdem setzte er die Interviews aus seinem Archiv wie ein Bastler zu immer neuen Filmcollagen fürs Fernsehen zusammen. Von dem Geld, das er damit verdiente, finanzierte er dann das nächste Zeitzeugen-Interview. Ob es ihn nicht stört, dass viele nichts von diesem erstaunlichen Projekt wissen? Die Frage scheint er fast nicht zu verstehen, so fern liegt ihm dieser Gedanke. Er habe so exklusiven Zugang zu Persönlichkeiten gehabt, das habe als Bestätigung gereicht, sagt er. Da ist es wieder, das Tun um der Sache willen, und das nimmt man ihm auch ab.

Dass alle bereitwillig mit ihm reden, selbst jetzt die Verlegerin Ulla Berkéwicz, liegt vielleicht daran, dass er seinen Protagonisten ein Recht auf Unversehrtheit einräumt, das man im bundesdeutschen Fernsehen nur selten hat. Grimm zerstückelt Aussagen nicht, lässt auch den Kontext bestehen. Außerdem, sagen Menschen, die ihn kennen, nehme er sich selbst so zurück, dass andere überhaupt erst den Raum bekämen, sich auszubreiten.

Ein bisschen Besessenheit ist auch dabei. Als er neulich in Saarbrücken eingeladen war, rief er Ex-Ministerpräsident Reinhard Klimmt vorher an und fragte: Kann ich vorbeikommen und Ihre Bibliothek filmen? Mit Inge Jens dreht er jetzt den zweiten Film, gerade fuhr er ihr zu einem Vortrag auf die Kurische Nehrung hinterher, und das an seinem Geburtstag. Ansonsten, sagt er, versuche er die Kamera aus seinem Privatleben herauszuhalten. Seine Kinder hätten sich schon beschwert. Da hätten sie einen Vater, der so viele Menschen gefilmt habe, und von ihnen gebe es nur ein paar Schnipsel.

„Suhrkamp – ein Verlag im Umbruch“, Mittwoch, 22 Uhr 45, RBB

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