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Medien: Flugzeuge im Kopf

Die Cannes-Rolle 2001: Werber und Genies des Alltags

Schön, wenn sich Werbung im wahren Leben widerspiegelt. Am Montag, im Reisebüro, riet der nette Mann, Ibiza wegen der britischen Urlauber zu meiden – die seien im Rudel nicht zu ertragen. Tags drauf schaut man sich die hundert besten Werbespots der Welt an, und schon hat man den Beweis, wie Recht der Mensch vom Reisebüro hat. Ein Spot von Saatchi & Saatchi aus London wirbt für einen Ferienclub: Ein streunender Hund lugt durch diverse Fenster in die Zimmer der Urlauber und macht nach, was er so sieht. Urlaub der Generation Blair besteht also im Wesentlichen aus Sex in allen Stellungen – „britischer Humor“.

Bei „Cannes- Rolle“, die am Dienstagabend in Berlin gezeigt wurde, wird ja gern nach den neuesten Trends in der Werbung gefahndet. Florian Weischer von „WerbeWeischer“, dem deutschen Repräsentanten des „49. Internationalen Advertising Festivals“ in Cannes, sieht zunehmend das wirkliche Leben in die Werbung einziehen. Das sieht dann so aus, dass etwa die US-Bierbrauer von „Budweiser“ die wahren Genies des Alltags feiern: den Erfinder eines besonders langen Hotdogs etwa.

Schwierig allerdings, wirkliche Trends anhand der 100 prämierten Spots in der Wettbewerbssparte „Film“ auszumachen. In Cannes wurde die Diskrepanz zwischen Preisträgern und dem unprämierten Rest beklagt – zu viel Mainstream, flache Witze. Schlüpfrig-derber Humor steht auch bei den Besten hoch im Kurs. Ein Beispiel: Ein Blinder lädt seinen Müll neben einer jungen Frau ab, weil diese lange nicht mehr ihr Deo erneuert hat. Selten so gelacht.

Viel zu lachen gibt es für die Branche momentan eigentlich nicht. Und so ist man versucht, den Berliner Veranstaltungsort der „Cannes-Rolle“, die Kreuzberger Kirche Zum Heiligen Kreuz, als verzweifelten Ruf um Hilfe von oben zu deuten.

Aber gemach. So schlecht lief es für die deutschen Agenturen gar nicht – 18 Löwen, drei mehr als im Vorjahr. Einer ging an TBWA in Berlin für ihren Behindertensportverband-Spot „Shoplifter“ – ein Mann rennt mit einem geklauten Sportschuh vor dem Verkäufer weg, am Ende sieht man: Der schnelle Läufer hat ein Holzbein. Immerhin sechs Löwen gingen nach Berlin. Neben TBWA taten sich, wie üblich, mit fünf Preisen Scholz & Friends hervor. Während Großbritannien die meisten Goldenen Löwen absahnte, dominierten die USA einmal mehr die Länderwertung. Den Grand Prix räumte der „Nike“-Spot „Tag“ von Wieden & Kennedy, Portland, ab – ein intelligent-absurdes Fang-Spiel einer ganzen Stadt.

Im Gedächtnis bleiben nach der 100- minütigen Reizüberflutung der „Nacht der Löwen“ Spots wie jener zu Kindesmisshandlung. Ein Vater wirft einen Cartoon-Jungen die Treppe runter, die Zeichentrickfigur verwandelt sich in ein echtes verletztes Kind. Text: „Real Children don’t bounce back.“ Beklemmend. Gut.

Ob der 11. September eine neue Nachdenklichkeit bewirkt? Die meisten Kampagnen wurden vor den Anschlägen konzipiert. In einem mit Gold bedachten „Nike“- Spot sprintet eine junge Frau von Schatten zu Schatten – auch durch den eines Flugzeuges. Der Jet fliegt tief über die Stadt. Sehr tief. Erik Heier

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