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Medien: Frau Gräfin, die Russen sind da

„Die Flucht“: Ein Zweiteiler mit Maria Furtwängler über die Vertreibung der Deutschen aus Ostpreußen

Vor zwei Jahren um diese Zeit gab es gleich zwei Dokumentationsreihen darüber, wie der Zweite Weltkrieg zurückkam in das Land, von dem er ausging. Man muss sich das vorstellen: Noch im Januar 1945 existierte das deutsche Ostpreußen, und Königsberg stand da wie Immanuel Kant es sah, der diese Stadt nie verlassen hatte. Doch die Rote Armee hatte eine zwanzigfache Überlegenheit an den Grenzen des Deutschen Reichs gesammelt.

Hitler kannte die Zahlen und nannte sie „den größten Bluff seit Dschingis Khan“. Im Dezember 1944 war das Fluchtverbot für Ostpreußen noch einmal verschärft worden, aber noch galt: Kant und die Transzendentalphilosophie sind ewig, wie sollten Königsberg und Ostpreußen es nicht sein? Natürlich ist das ein Thema für einen Spielfilm – eine scheinbar so fest gegründete Welt geht unter, von heute auf morgen. Heute Abend zeigt Arte den Zweiteiler über die größte Massenflucht der Geschichte, der am Sonntag (anstelle des „Tatorts“!) und am Montag im Ersten läuft. Zwölf Millionen Menschen flohen vor der anrückenden Roten Armee.

Bis 1990 wäre ein solcher Film wohl undenkbar gewesen oder hätte einen fatalen Beigeschmack gehabt, denn noch hatte die Bundesrepublik die deutsche Ostgrenze nicht anerkannt. Man kann die Existenz der DDR auch als vierzigjähriges Denk-Mal dieser ungelösten Grenzfrage begreifen. Dass es heute möglich ist, in einem großen Zweiteiler das Leid der Vertriebenen und den Untergang einer Welt zu zeigen, ohne sofort den Verdacht zu erregen, anderes Leid verschweigen zu wollen – auch das ist Klimaerwärmung. Eine, die man gar nicht hoch genug schätzen kann, denn sie zeigt Reife an. Man hätte also einen Film für reife Menschen machen können. Und was hat Regisseur Kai Wessel getan?

Sagen wir es so: Kai Wessel („Leben wäre schön“, „Klemperer - Ein Leben in Deutschland“) hat mit großartigen Schauspielern einen Film gedreht, in dem auch der „Verbotene Liebe“-Zuschauer sich ganz zu Hause fühlen kann. Das entspricht dem ersten Gebot des Fernsehens: Du sollst niemanden ausschließen! Das ist schon richtig, aber nicht ohne Preis. Und der Preis ist die Flucht-Soap. Leider nennt das ARD-Presseheft nirgends den Namen des Hauptschuldigen. Der Hauptschuldige ist ganz eindeutig der Filmmusiker. Inhaber empfindlicher Nervensysteme ist darum nahe zu legen, diesen Zweiteiler ohne Ton zu sehen. Nach „Die Flucht“ ist es völlig klar: Filme muss man vor allem akustisch beurteilen - nach ihrem Umgang mit Musik. Dass „Die Flucht“ nicht ohne ein Zuviel an Noten-Bindemittel auskommen würde, war zu vermuten. Aber dass diese sämige Moll-Soße noch in jede Ritze dringt und fast jeden (!) Dialog verklebt–- das ist vom ersten Augenblick an jenseits der Grenze des Erträglichen. Was für ein Misstrauen in den eigenen Film und die Schauspieler liegt darin. Und um die ist es schade.

Maria Furtwängler spielt die Gräfin Lena von Mahlenberg. Nicht nur draußen ist es kalt, im Januar 1945 in Ostpreußen, auch Maria Furtwänglers Augen wechseln virtuos zwischen verschiedenen Frostgraden – sie können zu wahren Eisseen werden, und momenthaftes Tauwetter darin wirkt darum umso berührender. Kühle und Zurückhaltung entsprechen dem Temperament des ostpreußischen Landadels und es kommen erstaunlich viele Grafen und Gräfinnen hier vor. Ja, „Die Flucht“ ist – auch wenn wir anderes erwarten – nicht zuletzt ein Film für die Liebhaber schöner Landschaften und Landsitze. Denn Ostpreußen mit seinen hohen Himmeln ist eine außerordentlich schöne Landschaft, auch im Winter (gedreht meist in Litauen wegen der Schneesicherheit) – und obwohl der Film „Die Flucht“ heißt, spielt sie doch meistens auf Schlössern. Das ist nur bedingt Kitsch, auch wenn der Verbotene-Liebe-Rahmen (Gräfin liebt französischen Fremdarbeiter, soll aber ungeliebten Graf heiraten) unsere Leidensfähigkeit fast so auf die Probe stellt wie die Filmmusik.

Zugleich ist dieser Aufenthalt auf den Landsitzen (das Gut Mahlenberg entstand auf Schloss Börnicke bei Bernau und auf Schloss Bothmer bei Wismar) aber auch Realismus. Nicht Einzelne gingen auf die Flucht, sondern ganze Güter. Die ZDF-Dokumentation vor zwei Jahren berichtete, wie Alexander Fürst Dohna aus Schlobitten schon an die Flucht dachte, als den meisten Menschen in Ostpreußen dieser Gedanke noch völlig absurd erschien. Ihm nicht, denn er war in Stalingrad gewesen. Aber dass er allein gehen könnte, war für den Gutsbesitzer undenkbar. Die Schlobitter bildeten den größten geschlossenen Treck, der aus Ostpreußen kam. Der alte deutsche Landadel sorgte für seine „Untertanen“ oft wie für eine Familie – diese Seite der Gutsherrlichkeit ist vielen heute kaum noch bewusst.

Kai Wessel und Gabriela Sperl (Drehbuch) lassen diese Welt noch einmal auferstehen. Großartig Jürgen Hentsch als Lenas Vater, das Versagen seiner Klasse erkennend und untergehend mit seiner Welt. „Die Flucht“ zeigt noch mehr Menschen, die sich nicht auf einen Nenner bringen lassen. Das ist die Chance des Spielfilms und Wessel nutzt sie. Gabriela Maria Schmeide ist Babette – Bedienstete der jungen Gräfin und zugleich deren Vertraute und beste Freundin. Eine Frau von großer derber Menschlichkeit und gesundem Menschenverstand und doch – oder gerade deswegen – für jede Verblendung empfänglich. Und ihr Sohn ist ein Jungfanatiker vor dem Herrn, bis zur letzten Minute und noch eine danach. Zu sehen, wie dieser ideologieverkrüppelte Junge verloren in der ersten Minute des Friedens steht und dazu den Blick Babettes, seiner Mutter – allein dafür lohnt es doch, diesen Film zu sehen. Und für die Unwirklichkeit des Abschieds von der Heimat, den so viele bezeugten. Auch die Töchter des Alexander Fürst Dohna, weil das Schloss, das Dorf und der Bahnhof vertraut dalagen wie immer. Es war absolut kein Grund zu sehen, warum sie fortgehen sollten. Manche haben den Treck mit Absicht verpasst oder wieder verlassen und sind auf eigene Faust zurückgekehrt, so wie Babette in „Die Flucht“. Es ist eine der stärksten und kargsten Szenen dieses so zur Völlerei neigenden Films.

„Die Flucht“, Arte: Teil 1 und 2 heute in Arte ab 20 Uhr 40; ARD: Teil 1 um 20 Uhr 15 am Sonntag, Teil 2 am Montag um 20 Uhr 15; der RBB zeigt am Sonnabend ab 20 Uhr 15 den Fernsehabend „Flucht und Vertreibung“; die ARD bringt am Sonntag um 23 Uhr die Dokumentation „Die Flucht der Frauen“ und am Montag um 21 Uhr 45 den Film „Hitlers letzte Opfer“.

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