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Hohe und höchste Bewertungen in den Restaurantführern machen Starköche wie Peter Hagen (links) und Paul Stradner glücklich.

© picture alliance / dpa

Fressführer im Vergleich: Die Küche rein, das Essen fein?

„Guide Michelin“ und „Gault&Millau“: Was die beiden Restaurantführer trennt und vereint.

Der Unterschied zwischen den beiden wichtigsten deutschen Restaurantführern ist groß – das zeigte sich bei den Veranstaltungen, auf denen die aktuellen Ausgaben präsentiert worden sind. In Berlin, wo der neue „Guide Michelin“ vorgestellt wurde, mag Chefredakteur Ralf Flinkenflügel dabei gewesen sein, aber offen gezeigt hat er sich nicht. Das einzige bekannte Michelin-Gesicht ist Michael Ellis, der Direktor aller roten Guides. In Hamburg dagegen, zur Vorstellung des diesjährigen „Gault&Millau“, traten Herausgeber Manfred Kohnke und Chefredakteurin Patricia Bröhm zur Gala an wie jedes Jahr und hielten wohlgelaunt Reden. Fotos von Flinkenflügel gibt es nicht, von Bröhm und Kohnke reichlich. Aber entgegen allen Verschwörungstheorien findet der Leser beider Publikationen rasch heraus, dass die Unterschiede der Bewertungen nicht besonders groß sind. Neun der elf Drei-Sterne-Restaurants des „Michelin“ beispielsweise stehen auch bei „Gault&Millau“ in der Spitzengruppe. Was, nebenbei, auch für alle anderen deutschen Restaurantführer – „Gusto“, „Varta“, „Feinschmecker“ – gilt.

Dennoch handelt es sich um zwei völlig verschiedene Produkte. Der „Michelin“ hat eine uralte Tradition als Hotelführer, der seinen Lesern dann in zunehmendem Maß Tipps für gutes Essen gab – entsprechend wird er auch heute noch von Köchen und Hotelfachleuten gemacht. Flinkenflügel hat beides gelernt. Er besteht auch darauf, dass er keine „Tester“, sondern „Inspektoren“ beschäftigt, was der Arbeit den Hauch der Objektivität eines Gesundheitsamts verleiht.

Der „Gault&Millau“ dagegen, von Journalisten als Fress-Führer gegründet, wurde stets von Journalisten geführt, das gilt auch für Bröhm und Kohnke. Deshalb ist jedes Urteil mehr oder weniger ausführlich begründet, witzig, sachlich, weitschweifig, präzise, genervt, ungerecht, je nachdem: Knapp 30 nebenberufliche Autoren, nicht unbedingt sämtlich professionelle Schreiber, tragen ihre Berichte zum Gesamtwerk bei, das sich bei genauerem Lesen entsprechend inhomogen zeigt. Beim „Michelin“, das macht seine Unantastbarkeit aus, wird nichts begründet, die Sterne kommen mit der Aura des Gottesurteils daher oder werden ebenso harsch gelöscht. Zwar sind vor einigen Jahren auch in den „Michelin“ erklärende Texte eingefügt worden, doch es handelt sich um reine Beschreibungen, meist ergänzt mit freundlichem, nichtssagendem Lob.

"Gault&Millau" attackiert Surrogatprodukte wie "Heringskaviar"

Dass die jeweils Verantwortlichen die Plätze tauschen, ist deshalb völlig undenkbar. „Die neuen Führungskräfte der anderen Guides stellen sich nicht mal mehr vor“, sagte Kohnke. Ralf Flinkenflügel – der Name ist offenbar echt – gibt zwar gern Auskunft, verlässt dabei aber nie die Rolle des streng bürokratischen, unbestechlichen Sachwalters. Kohnke hingegen, der mit einer kurzen Pause den „Gault&Millau“ schon über 30 Jahre verantwortet, gibt immer noch den angriffslustigen Streiter für die gute Sache einer schnörkelfreien Handwerksküche aus erstklassigen Produkten; er ist der offensiven Avantgarde eher abgeneigt und attackiert Surrogatprodukte wie „Heringskaviar“ („Heringsmüll!“) oder Surimi mit Inbrunst. Der „Michelin“ hat sich zu solchen Dingen nie geäußert.

Gelegentlich heißt es, der „Michelin“ favorisiere zunehmend die aus zahlreichen Elementen zusammengebaute „Pinzettenküche“, während der einst als Erfinder der Nouvelle Cuisine geborene „Gault&Millau“ zunehmend konservativer argumentiere – doch das ist bei näherem Hinsehen kaum schlüssig zu belegen.

Flinkenflügel, immerhin, legt in seinen Interviews Wert auf das vergleichsweise geringe Durchschnittsalter seiner Inspektoren – das könnte ein Indiz für größere Modernität sein oder für geringere Erfahrung, je nach Blickwinkel. Kohnke dagegen ist in diesem Jahr 75 geworden. Mit seiner hageren, imposanten Erscheinung überragt er seine Umgebung meist deutlich, und es dürfte kaum einen ehrgeizigen Küchenchef in Deutschland geben, der ihn nicht auf den ersten Blick erkennt. Er ist einer der letzten aktiven Leitwölfe aus der Gründerzeit des Nachkriegsjournalismus, war schon mit 25 Ressortleiter beim „Spiegel“, arbeitete unter anderem bei „Capital“ und „Wirtschaftswoche“, war Chefredakteur beim „Rheinischen Merkur“ und – der Vorliebe fürs Kulinarische folgend – bei „Vif“. Patricia Bröhm, gelernte Romanistin und Anglistin, war Ressortleiterin bei der „Marie Claire“ und schreibt seit etwa 15 Jahren freiberuflich, beispielsweise für die „Süddeutsche Zeitung“ und den „Feinschmecker“. Kohnke und Bröhm sagen beide, sie achteten beim Redigieren der Texte in erster Linie darauf, dass sie in sich plausibel begründet seien, denn nachtesten können beide wohl nur in geringem Umfang. Auch die Spesenbelege sind nicht unwichtig: „Wenn ich anhand der Restaurantrechnungen sehe, dass ein Tester aus kleinen Gerichten große Schlüsse ziehen will“, sagt Kohnke, „dann verabschiede ich ihn.“

Die meisten Köche kennen die Tester, die "Inspektoren" weniger

Es ist ein offenes Geheimnis, dass viele dieser Tester unter den Köchen relativ bekannt sind. Denn sie reisen ja nicht wie die festangestellten „Michelin“-Inspektoren ständig herum, sondern sind faktisch Stammgäste in ihrem Bereich. Da viele Köche Buch führen über das, was sie solchen Stammgästen auftischen, genügt ihnen meist ein Blick in den Text, um den Tester zu identifizieren. Das wird beim „Michelin“-System vermieden – doch auch hier spricht sich blitzschnell herum, wenn ein Inspektor, der ja meist solo auftritt, in der Gegend unterwegs ist. Beliebtestes Indiz für eine bevorstehende Aufwertung über einen Stern hinaus: Die „Michelin“-Leute kommen zu zweit, womöglich ist sogar ein Franzose dabei.

Von Flinkenflügel ist bekannt, dass er seit 1992 beim deutschen „Michelin“ testet, stellvertretender Chefredakteur war und 2009 zum Chef für Deutschland und die Schweiz ernannt wurde – seine Vorgängerin Juliane Caspar stieg damals, viel bestaunt, zur Chefredakteurin im Allerheiligsten, dem französischen „Michelin“, auf. Über die wirtschaftliche Lage der Guides dringt zwar nicht viel nach außen, aber der Buchverkauf allein kann die Kosten unmöglich refinanzieren. Der „Guide Michelin“, der allein für seine deutschen Inspektoren sicher mehr als eine Million Euro ausgeben muss, expandiert dennoch unentwegt rund um die Welt; Ausgaben für Skandinavien und Rio de Janeiro/São Paulo sind angekündigt, die Guides für Österreich und Los Angeles wurden allerdings auch rasch wieder eingestellt.

Der „Gault&Millau Deutschland“ gab fürs Essen nach Kohnkes Angaben bislang knapp 300 000 Euro jährlich aus, zahlt seinen Testern aber sonst nichts. Dennoch wurde die aktuelle Ausgabe um rund hundert Restaurants abgemagert, was sicher keine kulinarischen Gründe hat. Nummer eins ist der „Gault&Millau“ unangefochten in Österreich, in der Schweiz und in Deutschland liegt er in etwa gleichauf mit dem „Michelin“; die französische Ausgabe des „Gault&Millau“ gilt als heruntergewirtschaftet, und von Expansion in weitere Länder ist derzeit keine Rede mehr. Es spricht viel dafür, dass der Mythos „Michelin“ der langlebigere ist.

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