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Letzter Halt Sex

© SWR

Generation Sex-Kids: Pornos statt Pausenhof

Eine Dokumentation über Jugendliche, die ihren letzten Halt im Sex finden.

Der Rapper Kool Savas bringt die Sache sehr lakonisch auf den Punkt: „Das sind Menschen, die das Pech hatten, in eine Situation reingeboren zu werden, die einfach scheiße ist.“ So wie Cheeks beispielsweise, mit dem die Dokumentation „Kids am Abgrund“ beginnt. 16 Jahre alt, aus dem Plattenbaubezirk Berlin-Hellersdorf, ein Elternhaus so instabil, dass er darin nie Halt gefunden hat, im Heim landete. Alkohol, kiffen, erster Sex mit 14. Inzwischen habe er mit elf Mädchen geschlafen, sagt er. Er hat eine Liste in seinem Handy: „Babsy jessy nancy miri debby bees jacky gina Melli". Die Liste scheint nicht auf dem allerneuesten Stand, es sind nur neun Namen.

Jenny ist ein wenig älter als Cheeks, hatte sechs eher festere Beziehungen, insgesamt vielleicht 60 Männer und hat jetzt zwei Kinder. Nadine hat auch zwei, fing mit 10 an zu rauchen, mit 11 hat sie gekifft, mit 13 kamen die anderen Drogen. Sie zieht sich vor Webcams aus, träumt von einem eigenen Puff und Pornodrehs an der Siegessäule. Mit 15 hatte sie zum ersten Mal Sex: „Das habe ich mir dann gleich zum Hobby gemacht.“ Sandy ist 20 und früher von ihren Brüdern vergewaltigt worden, weil sie Pornos nachspielen wollten. Cheyenne, 19, wurde von ihrem Vater missbraucht, später ist eine Horde Jungs über sie hergefallen, bis ihr alles wehtat. Auch Jacqueline, 17 Jahre alt, wurde von ihrem Vater sexuell belästigt. Yasmina hat ihre Unschuld im Internet versteigert.

Das sind noch gar nicht alle Schicksale aus den 42 Minuten, die Manfred Bölk für seine Dokumentation hintereinandergeschnitten hat. Er lässt sie reden: Jenny, Cheyenne und Cheeks. Dazwischen sind Rapper wie Kool Savas zu hören, die von den Teenagern und Twens bewundert werden.

Die Kamera fährt vorbei an trostlosen Hartz-IV-Block-Fassaden. Bölk ist da hingegangen, wo das Zuhören wehtut: In die Bezirke von Berlin und Hamburg, wo zu wenig Geld ist, aber trotzdem immer Alkohol, Zigaretten, Gras, LSD, Koks. Und Sex, viel Sex – das Einzige, was Halt gibt. Das lässt der Regisseur eine Sozialarbeiterin sagen, einer der wenigen knappen Kommentare, die all diese Geschichten einordnen. Bölks Dokumentation ist als Collage aufgebaut. Die Vorlage für den Sex, das sollen seine Bilder demonstrieren, kommt aus dem Netz. „Internet-Rekord – über eine Milliarde Seiten Porno/Sex“, so lesen sich die einzigen Fakten, die er als Einblendung zeigt. Was auch immer das genau bedeutet – genau da liegt auch die Schwäche von Bölks Methode. Man kennt die Geschichten von den Hellersdorfer Sex-Kids, auch aus der „Bild“-Zeitung. Jetzt schafft „Letzter Halt Sex“ nicht viel mehr, als sie noch einmal in Bild und Ton zu zeigen.

Bölk fragt die Jugendlichen vor allem nach Sex, folglich erzählen sie fast nur davon. Ihre Statements flattern über den Fernsehschirm wie die Sekundeneinstellungen aus einem Musikvideo. Bei der Ästhetik von Rap-Clips bedient sich Bölk dann auch. Düstere Wolken über dem Reichstag. Zwischendrin stellt Kool Savas in einem Song fest: „Wir sind krank“. Die Jugendlichen bestätigen die These eindrucksvoll. Der Regisseur lässt ihnen kaum eine andere Chance.

Eine heikle Gratwanderung: Sicher muss man auf diese Missstände an den regionalen und sozialen Rändern deutscher Großstädte wie in Berlin und Hamburg aufmerksam machen. Aber wenn man es so komprimiert und kommentarlos tut wie diese Dokumentation, läuft man Gefahr, die Jugendlichen auszustellen wie einst die Hottentotten-Venus: als wilde Sexwesen aus dem fremden Bezirk.

Dagegen erscheint die Rolle der Rapper in Bölks Werk differenziert. Sie liefern beides: sexistische Porno-Soundtracks und kritische Sozialdiagnosen. So wie Kool Savas, der früher als einer der Ersten drastische pornografische Bilder in seine Texte einbaute, wenn auch ironisch – und sich jetzt sorgt, dass Jugendliche Sex viel zu früh aus Pornos lernen, „diesen ganzen dirty Scheiß“. Als er selbst noch etwas jünger war, hat Savas sich recht offen zu seinem Sexfilmkonsum bekannt. Was ihn nun nicht abhält, das kritisch zu betrachten.

Es besteht also durchaus Hoffnung. Nur kommt die in dieser Dokumentation etwas sehr kurz.

„Letzter Halt Sex – Kids am Abgrund“, ARD, 23 Uhr 30

Johannes Gernert

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