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Auftakt mit dem „Talkshow-Mord“. Angesichts der sechs in der Miniserie neu aufgerollten Fälle fragt man sich, ob die vierte Gewalt wirklich nur Beobachterin der dritten ist. Ob besonders die Boulevardpresse nicht längst Judikative spielt?

© Tsp

Gerichtsverfahren in den Medien: Schauprozesse, Showexzesse

Auftakt mit dem „Talkshow-Mörder“: Eine Real-Crime-Doku auf Netflix zeigt den Einfluss der Presse auf die US-Rechtsprechung.

Wenn Menschen vor Gericht stehen, sitzen die Medien meist nur im Zuschauersaal und dürfen dort nicht fotografieren, geschweige denn filmen. Es sei denn, die Medien stehen selber im Fokus. Als der Unterhaltungskonzern Warner Bros. vor 25 Jahren angeklagt war, für den Mord an Scott Amedure mitverantwortlich zu sein, saß auch ein System auf der Anklagebank, das gleichermaßen demokratisch und despotisch ist: mit täglichen Trash-Talks.

In so einem Talk hatte das schwule Opfer dem heterosexuellen Täter offenbart, ihn zu lieben – worauf dieser jenen drei Tage später im Wohnwagen erschoss. Nach der Verurteilung des depressiven Jon Schmitz zu 25 Jahren Haft engagierten die Hinterbliebenen einen Staranwalt, um den wahrhaft Schuldigen anzuklagen: die „Jenny Jones Show“. Deren Moderatorin, so argumentierte Geoffrey Fieger mit bissiger Eloquenz, habe Schmitz’ Tat nicht nur in Kauf genommen, sondern provoziert.

Das Resultat war eine Art Schauprozess über den Showexzess, der die täglichen TV-Pranger ins eigene Rampenlicht rückte und so den perfekten Auftakt einer Real-Crime-Reihe bildet, in der Netflix ab Montag „Gerichtsverfahren in den Medien“ beleuchtet. Besser noch: Medien in Gerichtsverfahren. Auch angesichts der fünf weiteren neu aufgerollten Fälle nämlich fragt sich, ob die vierte Gewalt wirklich nur Beobachterin der dritten ist. Ob besonders die Boulevardpresse nicht längst Judikative spielt?

So wie in der „Talkshow-Mord“ genannten Auftaktfolge sind ja auch die übrigen bis ins Urteil von vorgeblich journalistischer, hintergründig gezielter Einflussnahme geprägt – zum Beispiel im Fall des nachweislich rassistischen „U-Bahn-Rächers“ Bernie Goetz, der vier schwarze Teenager niedergeschossen hat und nach paralleler Medienkampagne einflussreicher Kommentatoren von einer rein weißen Jury freigesprochen wurde.

In den USA aus den Fugen

Anders als in der Real-Crime-Doku „Großkatzen und ihre Raubtiere“ auf Netflix geht es Showrunner Brian McGinn und Executive Producer George Clooney nicht um reale Freakshows, sondern um ein juristisch-politisches Gefüge, das nicht nur in den USA aus den Fugen gerät. Beim Bestaunen dieses sechsteiligen Sittengemäldes der US-Justiz geraten deutsche Zuschauer in einen Zwiespalt.

Sorgt das Verbot sensorischer Aufnahmen im Gerichtssaal einerseits für rechtstaatlich gebotene Fokussierung aufs Wesentliche, nämlich das Gesetz, so schafft das Blitzlichtgewitter in den Gerichtssälen der USA eine Transparenz, die hiesiger Jurisdiktion gut zu Gesicht stünde.

Im Sog des vulgarisierten Diskurses digitaler Netzwerke droht sie sich ins Gegenteil umzudrehen. Das wäre die Lehre aus dieser Miniserie („Gerichtsverfahren in den Medien“, Netflix): Zu wenix): Zu wenig Aufmerksamkeit schadet juristischer Suche nach Gerechtigkeit ebenso sehr wie zu viel davon.

Als der Selbstjustizschütze Bernie Goetz nach seinem Freispruch vor einem Zivilgericht zu Schadenersatz in Millionenhöhe verklagt wurde, stärkte das Urteil die Rechte Farbiger vor Gericht. Es verhalf aber auch der ultrarechten National Rifle Organisation zum Aufstieg.

Jan Freitag

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