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Medien: "Golzower Lebenswege": Ein Dorf unter Beobachtung

Das Oderbruch - der Gemüsegarten Berlins, nur einen Steinwurf von der deutschpolnischen Grenze entfernt. Hier liegt Golzow.

Das Oderbruch - der Gemüsegarten Berlins, nur einen Steinwurf von der deutschpolnischen Grenze entfernt. Hier liegt Golzow. Ein 1120-Seelen-Dorf, ein Ort wie jeder andere hier. Und doch hat er etwas Besonderes: die Kinder von Golzow. Jene Kinder, die 1961 hier in die Schule kamen, und die der damalige DEFA-Dokumentarfilmregisseur Winfried Junge seit 40 Jahren mit der Kamera begleitet. 16 Filme hat er bisher über sie, ihre Familien, ihr Lebensumfeld, ihre Wünsche und Träume gedreht. Es entstand die weltweit längste Dokumentarfilmreihe, die die Kinder von Golzow rund um den Erdball berühmt machte. Zum Film- und Drehjubiläum strahlt der NDR am Sonntag um 23 Uhr 45 die erste von vier Folgen der "Golzower Lebenswege" aus.

Am 28. August 1961, 15 Tage nach dem Bau der Mauer, war für 26 Mädchen und Jungen des Ortes der Tag ihrer Einschulung. Alles war neu: das Schulgebäude, die Klassenlehrerin. Doch das Aufregendste waren die Filmleute, die jeden Schritt mit ihrer Kamera beobachteten. Eines der Kinder war Jürgen Weber, ein aufgeweckter Junge mit strohblondem Haarschopf und neugierigen, offenen Augen. Der heute 46-Jährige wohnt noch in Golzow, in einem gepflegten Haus etwas abseits der Hauptstrasse. Weihnachten 1985 sind er, seine Frau und die beiden Kinder eingezogen. Sein Haare sind etwas dunkler geworden, aber seine Augen strahlen immer noch diese Offenheit aus. Die meisten seiner Klassenkameraden sind fortgezogen, in die in den 60er Jahren industriell aufstrebenden Städte an der Oder. Er ist geblieben. "Ich bin ein Landmensch, in der Stadt könnte ich nicht sein", sagt er. Und dann platzt etwas aus ihm heraus, was dem ganz und gar zu widersprechen scheint: "Jetzt hau ich ab!" Das klingt trotzig, wild entschlossen, wenn da nicht eine tiefe Traurigkeit in den Augen wäre. Jürgen Weber sieht für sich in Golzow keine Zukunft mehr. Das Dorf habe sich in den letzten zehn Jahren verändert, "jeder lebt nur noch für sich".

Jürgen, der Maler und Mauer, ist zum dritten Mal arbeitslos. Er hat einen polnischen Freund, der seit langem in Süddeutschland lebt, es dort zu was gebracht hat. Zu ihm will er. Er bewundert den Freund, wie der sich durchschlägt. Jürgen braucht jemanden, der ihm hilft. Er will endlich wieder Arbeit haben, zeigen, was er gelernt hat und dafür ordentliches Geld kriegen. Überall im Dorf hat er Spuren hinterlassen. Auch den Klub seiner alten Schule hat Jürgen ausgebaut. Jetzt aber hat er viel Muße zum Nachzudenken. "Wenn man den ganzen Tag schindert und ackert, hat man dafür keine Zeit", sagt er. Er hat sich entschieden wegzugehen.

"Er wird es nicht lange aushalten ohne sein Golzow", meint Winfried Junge, der 1993 über Jürgen Weber einen eigenen Film in der Reihe gemacht hat: "Das Leben des Jürgen von Golzow". Für den Regisseur ist Jürgen Weber ein ehrlicher Mensch, dessen Weltbild nach der Wende zusammengebrochen ist: "Er wird nicht fertig mit den Umbrüchen. Dabei ist sein Umfeld noch intakt, die Ehe funktioniert, die Kinder sind da, er hat ein schönes Zuhause." Wenn Jürgen Weber über den Regisseur spricht, nennt er ihn seinen "zweiten Vater": "Winne war immer ehrlich zu uns. Als der Film über mein Leben fertig war, hat er ihn uns vorher gezeigt und gefragt, ob er etwas wegschneiden soll. Ich habe nur gesagt: Warum? Das bin doch ich."

Die Veränderung im Dorf spüren auch Winfried Junge und seine Frau Barbara, die seit Mitte der 70er Jahre in seinem Team und seit den 80ern seine Ko-Regisseurin ist. Golzow sei gespalten, auf der einen Seite stünden die, die Arbeit haben, auf der anderen jene, die arbeitslos sind und fragten, warum sie keine Arbeit mehr finden. Die "Kinder von Golzow" sind erwachsen geworden. Einige seien nach der Wende aus dem Projekt ausgestiegen, sagt Winfried Junge. "Sie wollten nicht immer wieder an ihr Leben in der DDR erinnert werden, an das, was sie damals gesagt, gedacht haben."

Die Idee für den nächsten Film haben Barbara und Winfried Junge schon im Kopf. Aber die Zeiten für den Kino-Dokumentarfilm "sind spätestens seit 1994 schwierig geworden", sagt der Regisseur. Die Fördergelder sind rar, es sei schon schwierig, einen Sendeplatz in den Dritten Programmen der ARD zu bekommen. Die Junges machen weiter. Der Erfolg ihrer Reihe gibt ihnen Recht. Die Filme wurden auf allen Kontinenten gezeigt. Das Goethe-Institut hat sie im Programm. In der Österreich und in der Schweiz hat das Ehepaar seit Jahrzehnten eine große Fan-Gemeinde. Vor einigen Jahren wurden sie nach Japan eingeladen, erhielten gleich zwei Preise. Die Chinesen sahen in Hongkong einen Film von ihnen und waren fasziniert. Die Folge: In chinesischen Kinos lief ein Elf-Stunden-Golzow-Film-Marathon.

Seit dem Spätsommer ist der kleine Ort im Oderbruch um eine Attraktion reicher. Dank der Initiative des Bürgermeisters Christian Dorn wurde nämlich während der Berlinale 1998 im Berliner Kino "Delphi" verkündet: "Wir wollen in unserem Dorf ein Filmmuseum eröffnen für die Kinder von Golzow!" In zwei Jahren entstand aus einem Klassenraum der Schule, in der alles begann, ein kleines Museum. Christian Dorn ist stolz auf das Geschaffene, weil es "wahrscheinlich deutschlandweit nichts Authentischeres über die Lebensumstände in der DDR, so wie sie waren, gibt, als die Dokumentarfilmreihe über die Kinder von Golzow".

Regina Seifert

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