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Vorbild für Journalisten. Günter Wallraff in Odenthal-Blecher (Nordrhein-Westfalen) vor dem Fachwerkhaus, in dem er als kleiner Junge bis 1946 wohnte.

© dpa

Günter Wallraff wird 75: Die rastlose Reporter-Legende

Ausgezogen, die Welt zu verbessern: Günter Wallraff wird 75. Bei RTL schätzt er besonders die Hausjuristen.

Seinen ersten „Ehrentitel“, sagt Günter Wallraff, habe ihm die Bundeswehr verliehen: Er sei eine „abnorme Persönlichkeit, für Krieg und Frieden untauglich“. Anfang der 1960er Jahre hatte sich Wallraff beim Bund strikt geweigert, eine Waffe in die Hand zu nehmen und war schließlich in der Psychiatrie des Bundeswehrlazaretts gelandet.

Seine Erlebnisse schrieb er in einem Tagebuch auf, die Zeitschrift „Twen“ veröffentlichte seinen Bericht („So leb’ ich in meiner Kaserne“). Der Reporter Wallraff war geboren. Am 1. Oktober wird der Kölner Enthüllungsjournalist 75 Jahre alt. Heute sei er „der von RTL. Da zucke ich doch ein bisschen zusammen“, sagt Wallraff vor jungen RTL-Journalistenschülern im Geburtstagsfilm von Lutz Hachmeister. „Wallraff war hier“ wird erst acht Tage später bei RTL ausgestrahlt – auf eigenen Wunsch des Jubilars: „Weil ich meinen Geburtstag ignoriere.“

In seiner Heimat in Köln-Ehrenfeld, einem einstigen Industrieviertel, das sich gerade zum teuren Szenepflaster mausert, hat er sich seine eigene Günter-Wallraff-Welt geschaffen. Man gelangt durch eine Toreinfahrt in eine Garten-Oase voller Skulpturen. Ein Ort der Ruhe und der Kunst. Und mehr Ruhe wünscht sich auch Wallraff. Behauptet er.

Aber in Wahrheit kann er wohl nur anders. Bis heute ist er ein Getriebener, ein Rastloser, unermüdlich kämpfend für eine bessere Welt. Sandra Maischberger nennt ihn im Film einen „Gerechtigkeitsfanatiker“. Auch im persönlichen Gespräch in kleiner Runde wirkt Wallraff etwas hibbelig, sprunghaft, aber zugleich quicklebendig, übersprudelnd, leidenschaftlich – man könnte sagen: jung.

Wallraff redet nicht nur von der Vergangenheit. Er steckt voller Pläne, neue Recherchen zu alten Missständen, Aktionen zur Unterstützung politisch Verfolgter, die Arbeit in Stiftungen. Und dann sind da auch noch seine persönlichen Rettungsmissionen, denn immer wieder bitten ihn Menschen in Notlagen um Hilfe. Im Film erzählt Hachmeister von einem erfolgreich verlaufenen Fall: Wallraff trägt mit seinen Kontakten und seiner Hartnäckigkeit dazu bei, dass eine von ihrem Mann in Jordanien festgehaltene Mutter mit ihrer Tochter wieder nach Deutschland ausreisen darf. Aber nicht jedem kann er helfen. „Überwiegend laufe ich mit schlechtem Gewissen herum“, sagt Wallraff.

Wallraff gewährte auch selbst Unterschlupf

Er hat Ungerechtigkeiten schon immer persönlich genommen. Hat sich ihnen ausgesetzt, um sie in ihrer ganzen Scheußlichkeit enthüllen zu können. Zum Beispiel den mangelnden Arbeitsschutz in den „Industriereportagen“ (1970). Die zynische Berufspraxis des „Bild“-Journalismus in „Der Aufmacher“ (1977). Oder die Ausländerfeindlichkeit in „Ganz unten“ (1985). Als er sich 1974 in Athen bei einer Protestaktion gegen die Militärjunta ankettete und festnehmen ließ, riskierte er sein Leben.

Wallraff gewährte auch selbst Unterschlupf (und tut dies bis heute). Wolf Biermann wohnte nach seiner DDR-Ausbürgerung zuerst bei ihm in Köln, der von einer Fatwa bedrohte Schriftsteller Salman Rushdi ebenfalls. Wallraff erzielte enorme Wirkungen, stieß Debatten an und schrieb zugleich Mediengeschichte. Weil er „eine neue Form zwischen Literatur und Journalismus“ erfand (Hachmeister). Und weil die vom Springer Verlag in Gang gesetzte Prozesslawine damit endete, dass der Bundesgerichtshof verdeckte Recherchen unter bestimmten Bedingungen für zulässig erklärte.

Mit der Methode Wallraff macht man sich allerdings Feinde. Er wurde abgehört, überwacht (die offenbar zahlreichen Akten beim Verfassungsschutz sind gesperrt), mit Prozessen überzogen und mit Kampagnen bekämpft. Unvergessen sein Schnurrbart-Coup: Heinz Klaus Mertes, beim Bayerischen Rundfunk Chef von „Report München“ und sein eifrigster Gegner innerhalb der ARD, versuchte sich bei einer öffentlichen Veranstaltung ebenfalls als Undercover-Reporter – bis Wallraff ihm den falschen Bart aus dem Gesicht riss und wie einen Skalp triumphierend präsentierte.

Mertes bezichtigte ihn später in einem „Tagesthemen“-Kommentar, eine „steuerbare Leitfigur“ des Kommunismus zu sein. Man muss nicht jedes Buch Wallraffs, jede Reportage oder gar den Inszenierungsstil der RTL-Reihe „Team Wallraff“ für rundum gelungen halten. Aber das trotz aller Angriffe und ständiger Prozesse ungebrochene Engagement des nun 75-Jährigen ist schlicht: beeindruckend. Sämtliche Vorwürfe gegen Wallraff, sei es wegen angeblicher Stasi-Mitarbeit oder wegen Betrugs, erwiesen sich als haltlos.

Was sucht so einer bei RTL? Den Kontakt zu einer jüngeren Zielgruppe, die er bei den Öffentlich-Rechtlichen nicht mehr erreiche, sagt Wallraff. Außerdem hätten ihm die Hausjuristen von ARD und ZDF häufig Schwierigkeiten bereitet und Themen blockiert. RTL ist da offenbar mutiger und hält ihm bei Prozessen den Rücken frei. „Das gehört dazu“, sagt RTL-Chefredakteur Michael Wulf gelassen. Investigativer Journalismus sei eine Chance für das Fernsehen und für RTL „ein Mehrwert, der erst durch Günter Wallraff entstanden ist“.

13 Folgen von „Team Wallraff“ wurden seit 2013 ausgestrahlt. Das Format ist auch eine Art Ausbildungsstätte. Meist sind junge Reporterinnen und Reporter im Undercover-Einsatz, Wallraff gibt nur den Teamchef, was leider ziemlich gestelzt inszeniert wird. Aber: „Die Sendungen funktionieren“, sagt Wulf. Wallraff sei auch bei den jüngeren Zuschauern eine Marke.

Da zuckt Wallraff nicht mehr zusammen. Er lobt den Biss der jungen Kollegen, will aber sonst mit RTL-Programmen wie „Bauer sucht Frau“ nicht so gern identifiziert werden. „Das geht auch anders“, sagt er mehrfach. Und dass die RTL-Zuschauer eigentlich weiter seien, als dies die Verantwortlichen glauben. Wulf verweist darauf, dass der Privatsender eben ein kommerzielles Mainstream-Programm sei. „Team Wallraff“ und Unterhaltungsformate – „das verträgt sich nebeneinander“. Wallraff wiederum ist überzeugt: „Ich nutze den Sender, ich werde nicht benutzt.“ Das kann noch eine Weile so weiter gehen mit den beiden. Auch sonst denkt Wallraff nicht an einen Rückzug auf ein altersgerechtes Ruhekissen. Er gebe sich immer so zwei, drei Jahre und sehe dann wieder weiter.

Am Schluss des Abends möchte er gerne Tischtennis spielen. Es traut sich aber niemand. Wallraff hat „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann mal von der Platte geputzt, ihm aber einen Satz geschenkt. Das braucht man wirklich nicht.

„Wallraff war hier“, Montag, 9. Oktober, 22 Uhr 15

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