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Während schutzlose Hilfskräfte das Fegefeuer des Reaktorkerns bekämpfen, heißt es offiziell, dass eigentlich gar nichts los sei.

© Screen:Tsp

Neue Sky-Serie zu Tschernobyl: Höllengemälde

Abbild unserer Gegenwart, die in eine ähnlich vermeidbare Katastrophe rast: Im Sechsteiler „Chernobyl“ zeichnet Sky ein ziviles Desaster nach.

Wenn Orte Ereignisse verkörpern wie Babel den Sündenfall, ist dort meist Furchtbares vorgefallen. Utøya, Auschwitz, Seveso, Ramstein, Winnenden und alles, was von Nagasaki über Harrisburg bis Fukushima mit Atomkraft zu tun hat. Allen voran: Tschernobyl. Als am 26. April 1986 Reaktorblock Vier explodierte, stand Europa am Rande des Abgrunds. Wie knapp genau, zeichnet eine HBO-Serie auf Sky in beigegrauer Patina nach.

Im britischen Original heißt sie „Chernobyl“ und erzählt das Drama als Echtzeitdesaster, das mit jeder Minute mehr eskalierte. Wie in Diktaturen üblich durfte nicht sein, was die Allmacht der Herrschenden infrage stellt. So wird das Publikum nach Craig Mazins akribisch recherchiertem Drehbuch sofort in eine realexistierende Fiktion gezogen, die Regisseur Johan Renck („Breaking Bad“) wie ein Höllengemälde von Hieronymus in der Kulisse eines absurden Kammerspiels von Max Frisch inszeniert.

Während Tausende schutz- und ahnungslose Hilfskräfte das Fegefeuer des schmelzenden Reaktorkerns bekämpfen, einigt sich die verantwortliche Nomenklatura aus sicherer Entfernung darauf, eigentlich sei gar nichts los. Wie ihre Arbeiter auf dem Werksgelände währenddessen vergebens Geigerzähler suchen, wie Anwohner beim Wodka im Fallout übers Farbenspiel des Feuers am Horizont rätseln, wie die Verdrängungskampagne der Schuldigen beginnt – all dies zeigt eindrücklich, dass die Katastrophe gerade mal richtig Fahrt aufnimmt.

Tauziehen um Klarsicht und Kalkül einer Staatspartei

Verkörpert wird diese durch den fabelhaften Jared Harris als Valery Legasow, der als Direktor des Kurschatow-Instituts für die Liquidierung des toxischen Meilers zuständig war. Zum Serienauftakt nimmt er zwei Jahre nach dem Unfall in seiner Moskauer Wohnung ein Geheimprotokoll all der bürokratischen, politischen, persönlichen Führungsfehler auf – und dann sich selbst das Leben, bevor ihn eine Rückblende im Moment der Katastrophe als Funktionär zeigt, der den wahrhaft Schuldigen als einer der wenigen im Duckmäusersozialismus entgegentritt. Allen voran der Kremlgröße Boris Shcherbina (Stellan Skarsgård).

Mit ihr liefern sich Legasow und Atomwissenschaftlerin Khomyuk (Emily Watson) ein Tauziehen um Klarsicht und Kalkül einer Staatspartei, die selbst ihr neuer Generalsekretär Gorbatschow noch nicht kleinkriegt. Gerade die hornbrillenbewehrte Selbstgerechtigkeit, mit der ein greiser Funktionär um Zutrauen in Staat, Partei, Sozialismus bittet und Zusammenhalt fordert, während nebenan Feuerwehrleute sterben, soll die Zuschauer offenbar ein wenig in Sicherheit wiegen.

Am Ende – das mischt die Serie eher unterschwellig ins Geschichtsdrama einer desaströsen Krisenbewältigung – war Tschernobyl nur Abbild unserer Gegenwart, die in eine ähnlich vermeidbare Katastrophe rast: den Klimawandel. Dass „Chernobyl“ kein Zeigefinger-Historytainment geworden ist, liegt weder an Ausstattung noch Erzählung allein. Es ist die Absurdität der bitteren Wirklichkeit, in der hier kitschfrei emotionales Serienfernsehen der Extraklasse entsteht.

„Chernobyl“, sechs Teile, ab Dienstag auf Sky

Jan Freitag

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