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Medien: Ich bin „Tutti Frutti“

Wie denkt und fühlt ein Mensch, der mit dem Privatfernsehen groß geworden ist? Eine Art Beichte

Meine Eltern behaupteten früher, unser Wohnhaus sei derart ungünstig gelegen, dass der Empfang von Kabelfernsehen bei uns faktisch nicht möglich sei. Sie sagten, bei unserem Haus, dessen Gegebenheiten sich aus irgendeinem Grund von den Gegebenheiten sämtlicher anderer Berliner Häuser, auch denen der direkten Nachbarn, unterscheiden musste, müsste zu diesem Zweck der Bürgersteig vor dem Haus aufgestemmt werden. Der Einwand, dass man nicht verstehen würde, warum jede dahergelaufene Brieffreundin aus unerschlossenen Dörfern bei Rheda-Wiedenbrück oder Wanne-Eickel bereits „Bim Bam Bino“, „He-Man“ und „My little Pony“ guckte und man selber als Berliner nur „Spaß am Dienstag“ in der ARD, wurde abgebügelt. Dann folgte meist ein Satz, dessen Quintessenz war, dass es ja wohl auch nichts geben würde, was wir Kinder auf RTLplus und Tele5 verpassen würden. Das war wohl der eigentliche Grund. Die Sender, die nicht dumm machten, hatten wir ja bereits.

Von mir aus hätten sie gerne die ganze Stadt aufbohren können, damit ich endlich auch einmal heimlich nachts „Tutti Frutti“ gucken konnte, eine Spielsendung mit barbusigen Frauen, die nach Obst benannt wurden, und angeblich auch mit einem einzuhaltenden Regelwerk (welches kein Kind kannte, da sie die Sendung ohne Ton gucken mussten, um die Eltern nicht zu wecken), moderiert von einem bis heute scheinbar um keinen Tag gealterten Hugo Egon Balder.

Die Folge der pädagogischen Härte meiner Eltern war eine harte Bewährungsprobe für Schulfreundschaften: Beim Besuch bei Freunden waren meine Schwestern und ich oft unkreative, lethargische Spielpartner, die am liebsten immer nur schweigend „Alles Nichts Oder?!“ gucken wollten.

An dem Tag, an dem wir uns durchsetzten und auch wir Kabelfernsehen bekamen, wurde dann wirklich ein großer Teil des Bürgersteigs aufgestemmt. Aber es hatte sich gelohnt. Meine damalige ZDF-Lieblingsserie „Ein Colt für alle Fälle“ war sofort Vergangenheit, sie lief einfach auf dem falschen Sender. Sie wirkte so staubig und das Bild hatte irgendwie einen Grauschleier. Und zuzugeben, dass man eine Lieblingsserie im ZDF hatte, war wie zuzugeben, dass man kein Kabelfernsehen hatte. Die täglichen Entscheidungen für Privatsender und gegen ARD und ZDF fielen leicht, wenn Serien wie „Parker Lewis – Der Coole von der Schule“ (Pro 7) gegen „Unser Lehrer Doktor Specht“ (ZDF) antrat.

Mit dem Start des Privatfernsehens im Januar 1984 wurde Fernsehen bei uns plötzlich ein Thema. Ein richtiges Thema, über das in der Schule gesprochen wurde. Ich kann mich erinnern, wie ich das erste Mal eine Talkshow gesehen habe. Es war das Pro-7-Angebot der ewig aufgedrehten Moderatorin Arabella Kiesbauer, es ging thematisch wahrscheinlich um die individuelle Unzufriedenheit mit Körbchengrößen – und ich fand die Sendung hochinteressant. Die Talkshows waren damals zwar nicht besser als heute, man war nur noch nicht gelangweilt von ihnen und fand es noch unkonventionell und neu, „echte“ Menschen im Fernsehen zu sehen.

Die Talkshows führten dazu, dass man dachte, ein Tabu – das Privatleben – sei ins Fernsehen gezerrt worden. Ein kleines Stück Lebensrealität komischer Menschen, von denen man sonst vielleicht höchstens ein bisschen etwas mitbekam, wenn man bei RTL „Explosiv“ mit der mimisch völlig versteinerten Barbara Eligmann einschaltete. Dass es noch voyeuristischer ging, dachte man nicht. Dann kam „Big Brother“. Der Container, in dem Menschen eine bestimmte Zeit lang leben, duschen und streiten, bis einer gewinnt, und die dabei 24 Stunden von Kameras begleitet werden. Skandal! Plötzlich wurde mein Klassenkamerad Zlatko nicht mehr von anderen gefragt, wie denn sein komischer Name geschrieben werde, weil jeder diesen Namen plötzlich kannte. Heute regt sich über Big Brother keiner mehr auf. Es läuft, von der Zuschauerschaft fast vollständig ignoriert, mittlerweile in der neunten Staffel.

Eltern mochten RTL nicht und fanden nur RTL 2 noch schlimmer. Daher gab es Streit, als ich mich das erste Mal verliebte und es ernst meinte. Er hieß Jason Priestley und spielte in der RTL-Serie „Beverly Hills 90210“ den Brandon Walsh.

Diese Serie – und das sage ich auch heute noch mit gutem Gewissen – hat mein Leben verändert. Eine amerikanische Clique, in der die Jugendlichen Handys hatten und in der es viel um Abschlussbälle, Liebe und Geld ging. Es war die erste Serie, bei der man ganz wirklich dabei und unbedingt so sein wollte wie die Darsteller. Bei der man sauer auf die beste Freundin wurde, wenn sie Brandon plötzlich auch gut fand und das bessere Poster von ihm hatte. Als ich das erste Mal „Sex and the City“ gesehen habe, musste ich an „Beverly Hills“ zurückdenken. Natürlich war man aus dem Alter raus, in dem man sich in Seriendarsteller verliebt, aber es gab plötzlich wieder eine Serie, zu der man sich auf einmal wieder mit Freundinnen traf. Eine Serie, die zusammenschweißt und zu einem Treffen mit Freundinnen dazugehört.

Der Nimbus des Schmuddeligen und Doofmachenden ist dem Privatfernsehen nie abhanden gekommen. Natürlich nicht. Weil am vergangenen Freitag die vierte Staffel des C-Promi-Internierungs camps „Ich bin ein Star – holt mich hier raus“ angelaufen ist, weil im Nachmittagsprogramm immer noch Gerichtsshows laufen, in denen talentfreie Laien völlig unrealistische Gerichtsverfahren nachspielen, und weil die Abendunterhaltung der Privatsender am Wochenende fast nur noch aus Countdown-Sendungen zu bestehen scheint, die „Die größten Radio-Hits Deutschlands“ heißen oder so ähnlich, und in denen Prominente, von denen man immer nur Sky Dumont als solchen identifizieren kann, ihre Erinnerungen an irgendwelche eingespielten Lieder erzählen. Viele gucken daher aus Prinzip keine Privatsender und verpassen damit eine Menge an guter Unterhaltung.

Manchmal, wenn ich meine Mutter am Freitag gegen 20 Uhr 30 anrufe, dann ist sie kurz angebunden. Es kommt vor, dass ich im Hintergrund diese fiese Tonabfolge höre, die erklingt, wenn bei „Wer wird Millionär?“ eine neue Frage gestellt wird, und meine Mutter frage, ob sie gerade RTL gucke. Dann erschrickt sie ein bisschen, als ob das verboten wäre, und sagt „Aber wirklich nur den Jauch“. Es ist für jeden was dabei.

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