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Medien: Idylle und Milieu

Der Hamburger „Tatort: Liebeshunger“ erzählt von „Hausfrauensex“ und bürgerlicher Doppelmoral

„Du musst ja jetzt auch los“, verabschiedet Joachim Freiberg liebevoll seine Frau Karin, bevor sie sich mit dem Rad von der Hamburger Reihenhaus-Siedlung zu ihrem Arbeitsplatz in der Innenstadt begibt: Zu einer tödlichen Beschäftigung, denn wenige Minuten im „Tatort: Liebeshunger“ später sieht man nur noch das Blitzlicht des Polizei-Fotografen, der Karins Leiche in ihrer Arbeitswohnung ablichtet. Welche Rolle die Fesseln und der Knebel dabei spielten, diese Frage lässt sich beim Anblick der Leiche auf dem großen Bett leicht beantworten. Warum in ihrem Handy allerdings die Nummer von „Tatort“-Kommissar Jan Casstorff (Robert Atzorn) gespeichert war, bleibt hingegen erst einmal ein Geheimnis, denn von der kurzen, aber heftigen Affäre, die er vor vielen Jahren zu ihr hatte, wird der Kriminalkommissar erst später erzählen.

Vorerst gibt es andere Überraschungen: Karins Mann war ihr Doppelleben zwischen wohlanständiger Hausfrau und Nebenerwerbs-Prostituierter durchaus bekannt. Mehr noch. Nach dem Autounfall, der den ehemaligen Leiter eines Autohauses an den Rollstuhl fesselte, und nachdem Karin ihren Job in einer Privatklinik verloren hatte, waren beide übereingekommen, dass die Raten für das Reihenhaus und die Kosten für den Geigenunterricht des sensiblen zwölfjährigen Sohnes nur auf diese Weise aufzubringen wären. Liebe in Zeiten von Hartz IV, wobei die Geschichte gar nicht so weit hergeholt ist. Vielmehr kommt dieser Hamburger „Tatort“ einem Lehrstück über „Hausfrauensex“ – Prostitution ohne Anbindung ans Milieu – und bürgerliche Doppelmoral recht nahe. Fast ein Viertel der 6000 Hamburger Prostituierten arbeiten auf eigene Kappe, bieten sich ihren Freiern in so genannten Modellwohnungen an, und zwar nicht nur in St. Pauli oder St. Georg, sondern genauso in besseren Wohngegenden wie Winterhude oder Eppendorf, darf Casstorff der Staatsanwältin und Geliebten Wanda Wilhelmi (Ursula Karven) erklären.

Präzise von Rafael Solá Ferrer (Buch) recherchiert, sanft und ohne unnötige Action von Thomas Bohn in Szene gesetzt, haben beide angesichts der Problemschilderung jedoch offenbar den Krimi ein wenig aus dem Auge verloren. Robert Atzorn betont zwar, dass er es durchaus genossen hat, in der Casstorff-Rolle den in Freundschaft zu der Toten Betroffenen gefühlvoll spielen zu dürfen. Auf der anderen Seite werden auch die typischen Hamburger Milieu-Klischees von Reeperbahn und Brutalo-Luden bedient. Dennoch wünscht sich der Zuschauer etwas mehr Spannung und etwas mehr kriminalistische Ermittlungsarbeit jenseits der üblichen Verdächtigen, wenn es um sexuelle Fesselspiele geht. Daran kann auch das überraschende Ende nichts ändern.

„Tatort: Liebeshunger“, 20 Uhr 15, ARD

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