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Verwerfungen nach dem Ableben. Mittendrin: Sohn Mario (Charly Hübner, v. l. n. r. Luise von Finkh, Claudia Michelsen, Anja Kling und Devid Striesow).

© ARD Degeto/Georges Pauly

Impro-Film mit Charly Hübner: Die Stegreif-Falle

„Meine Drehs sind immer eine Art Trip für die Schauspieler.“ In „Das Begräbnis“ versammelt Jan Georg Schütte wieder Stars zum Impro-Theater.

Vor Publikum kennt die faszinierende Kunst der Improvisation in der Regel zwei Ausdrucksformen: ein wenig zu viel oder viel zu wenig. Weil dem Dargebotenen die Struktur eines ordnenden Drehbuchs fehlt, neigen improvisierende Schauspieler schließlich zum Quasseln oder Verstummen. Beides ist selten erbaulich, beides fern jener faszinierenden Kunst der Improvisation, die Jan Georg Schütte zum Markenkern seiner fabelhaften Kammerspiele erhoben hat.

Nicht als erster, aber derzeit bester Filmemacher schickt er Darsteller ohne Skript in Situationen, die ihre Fähigkeit erfordern, sich komplett fallen zu lassen. Trüb glänzende Perlen der Popkultur hat er so seit seinem Regiedebüt „Swinger Club“ vor 16 Jahren aufgereiht.

Experimentierfreudige Kammerspiele von „Altersglühen“ über „Klassentreffen“ bis hin zur Paarpsychologen-Komödie „Kranitz“ vor drei Monaten – mehrfach prämiert, vielfach gelobt, derart eigentümlich, dass die Messlatte hoch hängt für alles, was an Impulsfernsehen noch so kommen kann. („Das Begräbnis“, Dienstag, ARD, um 22 Uhr 50, weitere Folgen jeweils dienstags. Komplett in der ARD Mediathek)

Da darf man sie auch mal reißen. Wenngleich auf rekordverdächtiger Höhe. Jan Georg Schütte hat es nämlich schon wieder getan. Und wie! Im ARD-Auftrag ließ er einen Cast von ausgesuchter Prominenz nach Herzenslust statt Dialogregie mimen. Was hierzulande auf Leinwand oder Bildschirm Rang und Namen hat, nahm wie üblich seine Einladung zum „Begräbnis“ an, das Schütte mit Biografien, aber ohne Text versehen zur sechsteiligen Provinzposse auswalzen durfte.

Irgendwo im Nirgendwo von Mecklenburg wird Dorfklempner Wolf-Dieter Meurer zu Grabe getragen. Alle kommen noch einmal zur Zeremonie vom wuchtigen Pfarrer Wittig (Thomas Thieme) zusammen: der brave Sohn Mario (Charly Hübner) und der verlorene Sohn (Devid Striesow) und die neue Frau (Catrin Striebeck), der verlorene Freund (Jörg Gudzuhn) und die fürsorgliche Tochter (Claudia Michelsen), das Ziehkind Anna (Anja Kling) und ihr Ehemann Carsten (Martin Brambach). Gemeinsam belassen sie es aber natürlich nicht beim titelgebenden Trauerereignis mit Leichenschmaus.

"Da muss man sich auch mal entspannen, du hast ja die ganze Woche Stress.“

Um sechsmal 45 Minuten zu füllen, hat Schütte seinem Personal noch reichlich Konfliktpotenziale mit auf den letzten Weg des Toten gegeben, von denen das heikle Testament inklusive Enterbungen noch zu den berechenbarsten zählt: Kuckuckskinder, Stasiseilschaften, alte Animositäten und neuer Streit, ein schwäbischer Geldeintreiber (Aleksander Jovanovic) und der geheimnisvolle Freund (Jörg Gudzuhn).

Viel hilft hier nicht viel, viel ist manchmal zu viel für das, was Schüttes Filmkunst zur Ausnahmeerscheinung gemacht hatte. Während deutsche Fiktion zur überinszenierten Melodramatik neigt, hat sein Impulstheater sie vom krampfhaften Perfektionszwang befreit.

Schüttes Charaktere durften stammeln, wo andere rezitieren, seine Filmpersonen wurden Filmpersönlichkeiten, weil sie nichts darstellen mussten, sondern einfach, nun ja: sein. Anarchistisches TV-Theater wie „Wellness für Paare“ war furios, weil all die Stars darin etwas durften, was ihnen das quotenfixierte Formatfernsehen allzu oft verbietet: spielen.

Das tun sie auch hier. Sie tun es so glaubhaft, so verblüffend wie der Improvisationsartist Dirk Martens als Versicherungsmakler König. Verfolgt von mehr als 50 Kameras jedoch packt Schüttes Drehbuchrohbau auch ihm so viele Handlungsdirektiven in die Kreativität, dass sie über die Köpfe wachsen.

„Meine Drehs sind immer eine Art Trip für die Schauspieler“, sagt Reiseleiter Schütte. Diesmal müssen sie zu viele Zwischenstopps einlegen, um dem Zauber des Stegreifs zur Entfaltung kommen zu lassen.

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Dennoch und vielleicht auch deshalb ist „Das Begräbnis“ ein großes Stück Unterhaltung mit dem entlarvenden Tiefgang spontaner Wahrhaftigkeit aus wechselnder Sicht aller Beteiligten. „Wenn du gut verdienst, muss man sich auch mal entspannen, du hast ja die ganze Woche Stress“, will der flatterhafte Torsten dem rechtschaffenen Mario ein Wellnesshotel auf Vadders Hof schönlabern. „Ich hab’ auch die ganze Woche Stress, ich entspann’ mich hier“, antwortet sein Bruder, „hier is’ auch schön.“

So was kann man kaum schreiben, das lässt sich nur improvisieren. Unter Schüttes Regie.

Jan Freitag

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