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Informieren und informiert werden: An jedem Tag Revolution

Aufbruchstimmung versus Angst: Die arabische Redaktion der Deutschen Welle in Bonn verarbeitet die Zeitenwende.

Samir Grees erkennt seine Heimat Ägypten kaum wieder. „Das Gefühl, dass man nicht alles hinnehmen muss, dass wir unsere Zukunft selbst bestimmen können – das kenne ich nicht.“ Er nennt die revolutionären Ereignisse „größer als jeden Traum“. Als die Proteste nicht abreißen wollten, hätte er am liebsten ein Flugticket nach Kairo gekauft, um dabei zu sein, wenn auf dem Tahrir-Platz Geschichte geschrieben wird. Grees lebt seit 20 Jahren in Deutschland. Er hat in Mainz studiert und übersetzt deutsche Literatur ins Arabische, zuletzt Kurzgeschichten von Wolfgang Borchert. Daneben arbeitet er zwei oder drei Tage in der Woche als freier Mitarbeiter in der arabischen Redaktion der Deutschen Welle (DW) in Bonn. Er übersetzt und liefert eigene Beiträge für das arabischsprachige Radioprogramm und die Online-Seiten der DW. Als Mubarak noch an der Macht war, schrieb er einen Artikel über die Reichtümer des Staatspräsidenten. Der sei „sehr stark angeklickt“ worden, sagt er. Außerdem sei der Beitrag vom Fernsehsender Al Dschasira zitiert worden – was zurzeit einem Ritterschlag gleichkommt, wenn man in der arabischen Welt Gehör finden will.

Im Büro von Rainer Sollich, Leiter der Arabischen DW-Redaktion (Hörfunk/Online), läuft Al Dschasira nahezu pausenlos. Dennoch ist man auch in Bonn schnell bei den neuen Medien gelandet, wenn man nach der Entwicklung der vergangenen Wochen fragt. Sollich kommt dann auf die Facebook-Seite der Welle zu sprechen, die am 18. November 2010 freigeschaltet wurde. Seit dem Umsturz in Tunesien gehen die Zahlen nach oben, sagt er. Dort kann die DW nicht nur für ihr eigenes Programm werben, sondern auch Kontakte zu Aktivisten knüpfen. 5000 würden sich regelmäßig einloggen, die meisten stammen aus Ägypten. Die arabischsprachigen Online-Seiten haben im Monat knapp 400 000 User.

Ob das viel oder wenig ist, ist Ansichtssache. Der deutsche Auslandsrundfunk ist in dieser Region nur ein kleiner Spieler oder ein „komplementäres Angebot“, wie Sollich es nennt. „Wir wollen und können nicht erste Informationsquelle für Nachrichten aus der Region selbst sein.“ Es gehe darum, Hintergründe zu liefern, Diskussionen anzustoßen, den „Austausch zwischen verschiedenen Perspektiven“ zu ermöglichen – und natürlich auch die deutsche Sichtweise in die arabische Welt zu tragen. Die werde durchaus wahrgenommen, nicht so stark wie die amerikanische, dafür stoße sie aber „auf relativ hohe Sympathie und Akzeptanz“.

In Sollichs, inklusive der freien Mitarbeiter, 30-köpfiger Redaktion versammelt sich beinahe die gesamte arabische Welt. Was zurzeit geschieht, kann hier niemand so richtig fassen. „Wir haben manchmal das Gefühl, dass an jedem Tag in einem anderen Land eine Revolution ausbricht“, erklärt Sollich. Doch neben der Aufbruchstimmung gibt es bei den Mitarbeitern auch die Angst um ihre Familien in der Heimat. „Ganz schlimm war das“, sagt der Ägypter Grees im Rückblick. Mitarbeiter aus Libyen hat die Bonner Redaktion nicht, aber natürlich Kontakte ins Land, Informanten, die zum Teil anonym bleiben wollen.

Mittlerweile wurden auch Kollegen ins tunesisch-libysche Grenzgebiet entsandt. Sondersendungen sind nun an der Tagesordnung, normalerweise werden hier täglich zwei Stunden Hörfunk produziert, vor allem Magazine, einmal wöchentlich auch ein Diskussionsforum. Die Sendungen werden per Satellit und Ultrakurzwelle in die arabische Welt ausgestrahlt. Außerdem sind die Hörfunkbeiträge auf den Onlineseiten abrufbar. DW-TV in Berlin strahlt ebenfalls ein arabischsprachiges Programm aus, insgesamt zwölf Stunden täglich. Fünf sind frisch und aktuell, sieben Stunden bestehen aus Wiederholungen.

Mit dem Umbruch eröffnen sich auch für die DW neue Chancen. „Die Menschen sind noch mit anderen Dingen beschäftigt als mit der Vergabe neuer Radiofrequenzen“, sagt Sollich zwar über Tunesien. Aber das Thema wird bald akut werden, da ist er sich sicher. Auch in Ägypten. Dort hätten die vier Korrespondenten der DW schon vor Mubaraks Sturz freier arbeiten können als in Tunesien, obwohl auch in Ägypten ein Maß an Unfreiheit geherrscht habe, „das wir uns nicht vorstellen können“. Laut Sollich habe die DW Menschenrechtsverletzungen „immer schon thematisiert“, aber das ging nur von außen. Ägyptische Partnerstationen mit Programmen politischen Inhalts zu beliefern, sei nicht möglich gewesen, das habe das Regime nicht zugelassen. Auch DW-TV arbeitete nur für eine einzige Sendung, eine regelmäßige Diskussionsrunde von Jugendlichen, mit einem staatlichen Sender zusammen.

Die Entwicklung in der Region legt nahe, dass der deutsche Auslandsrundfunk dort seine Präsenz verstärkt. Doch der aus dem Bundeshaushalt finanzierte Sender ist im Umbruch – und muss weiter sparen. Bis 2014 insgesamt 23 Millionen Euro. Ob sich die in der DW-Aufgabenplanung gewünschte „Ausweitung des Angebots“ für diese Region realisieren lässt, ist offen. Jedenfalls soll im Etat für die arabischen Programme nicht gekürzt werden, verlautet aus Bonn.

Samir Grees ist dann doch noch nach Kairo geflogen. An dem Tag, als Mubarak zurücktrat. Als die Meldung verkündet wurde, war er gerade erst wenige Stunden zuvor auf dem Tahrir-Platz angekommen. „Ich konnte einfach nicht in Bonn bleiben und die Ereignisse in Ägypten vor dem Bildschirm verfolgen“, schreibt er aus Kairo. „Ich genieße die Zeit der Neugeburt des Landes, führe viele Gespräche mit Freunden und Aktivisten, schreibe Berichte auf Arabisch und Deutsch und bin froh, dass ich zumindest das Ende des Regimes Mubaraks miterlebt habe.“

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