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© MDR/HA Kommunikation

Interview mit MDR-Chef: "Grenzen der Gerechtigkeit"

MDR-Intendant Udo Reiter spricht mit dem Tagesspiegel über das DDR-Erbe, Ostfernsehen und Psychologie.

Herr Reiter, Rückblende ins Jahr 1991: Sie arbeiten als jüngster Hörfunkdirektor der ARD beim Bayerischen Rundfunk. Der weitere Aufstieg scheint unaufhaltsam: Trotzdem gehen Sie nach Leipzig, um Gründungsintendant des Mitteldeutschen Rundfunks zu werden. Abenteuerlust? Helfersyndrom? Feldherrengelüste?

Vielleicht von allem etwas. Die erste Voraussetzung war aber, dass ich mich schon vorher für die DDR interessiert hatte. Ich habe in den 70er und 80er Jahren drei Mal Urlaub in der DDR gemacht. Das kam daher, dass ich in West-Berlin studiert habe und bei den Fahrten durch die DDR immer die Wegweiser Leipzig, Dresden, Magdeburg gesehen habe. Das hat mich berührt, das war ja Deutschland. DDR-Literatur war außerdem mein Spezialgebiet. Ich hatte Brigitte Reimann, Christa Wolf und Erwin Strittmatter gelesen. So hatte ich eine gewisse thematische Vorbildung. Im Bayerischen Rundfunk musste ich als junger Redakteur auch immer die Kommentare zum 17. Juni schreiben. Die sagten: „Der Reiter soll das machen, der ist ja für die Wiedervereinigung.“ Als ich 1991 dann gefragt wurde, ob ich MDR-Intendant werden wolle, habe ich sofort ja gesagt. So eine Chance, eine Rundfunkanstalt von Grund auf aufzubauen, bekommt man nur einmal im Leben.

Ein Bayer aus Lindau kommt in den postsozialistischen Osten. Wie viele Welten trafen sich da?

Mehrere. Die Bayern waren ja eher südlich orientiert. Wolf Feller, der damalige Fernsehdirektor des BR, sagte immer: Wiedervereinigung ja, aber mit Südtirol! Als ich aus Bayern nach Leipzig kam, war die sozialistische Ordnung schon am versinken. Dazu dann die Wessis, das ergab eine eigentümliche Mischung aus Ost und West, aus gestern, heute und morgen.

Wie, Herr Reiter, gründet man einen Mitteldeutschen Rundfunk?

Das wusste ich auch nicht. Es gab den Staatsvertrag der Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, der die Idee einer schon mal existierenden Rundfunkanstalt in Mitteldeutschland aufgriff. Im Staatsvertrag stand: Ab 1. Januar 1992 sieben Hörfunkprogramme, ein Fernsehprogramm und zehn Prozent Anteil am ARD-Programm, drei Landesfunkhäuser, Zentrale, Hörfunk extra noch in Halle. Gewählt wurde ich Anfang Juli 1991, da war ich der einzige Angestellte des MDR, 001 sozusagen. Ich suchte mir ein paar Leute aus dem Westen, denen ich zutraute, eine solche Aufgabe zu bewältigen. Dazu hatte ich mir beim Bayerischen Rundfunk Anstellungszettel besorgt, da stand „BR“ drauf, das habe ich durchgestrichen und „MDR“ darüber geschrieben. Es gab keine Infrastruktur, wir hatten 47 verschiedene Standorte, wo immer ein Kabel aus der Wand hing, haben wir uns niedergelassen. 560 Millionen Mark Anschubfinanzierung waren vorhanden, gebraucht wurden rund 1,2 Milliarden.

Eine gewisse Lücke.

Und ratlose Gesichter in der Direktorenrunde. Der damalige Verwaltungsdirektor erzählte dann, er hätte privat Moskauer Stadtanleihen gekauft, die hätten 300 Prozent Rendite gebracht. Das hat mir eingeleuchtet. Wir sind also an die Börse gegangen und haben das Geld innerhalb von drei Jahren mehr als verdoppelt. Ich habe zum Glück nicht gewusst, dass man mit Gebührengeldern gar nicht auf diese Weise spekulieren darf. Aber es war der Wilde Osten, da hat sich damals niemand darum gekümmert. Wäre der Börsencrash ein Jahr früher gekommen, wäre das Geld weg gewesen und man hätte man mich vom Hof gejagt.

Wie viele Kröten haben Sie geschluckt?

Wir hatten nicht viel Zeit zum Zählen. Die Stasi-Problematik haben wir anfangs zu oberflächlich behandelt, ich war ja froh um jeden, der gekommen ist. Das hat man uns mit Recht heftig vorgeworfen. Und als wir mit einer Ecuador-Anleihe zwei Millionen verloren hatten, hieß die Schlagzeile mit meinem Foto: „Der Chef der Zockerbude.“ So was musste man dann schon schlucken.

Hat der Mitteldeutsche Rundfunk so etwas wie eine mitteldeutsche Identität entstehen lassen?

Das wäre übertrieben. Wir haben mit Westdirektoren begonnen. Das Risiko war, dass uns die Leute als Besatzungsrundfunk wahrnehmen und ähnlich einstufen würden wie die Immobilienhaie, die aus dem Westen eingefallen sind. Das versuchten wir zu vermeiden, und schon die ersten Umfragen haben gezeigt, dass wir damit Erfolg hatten und die Leute den MDR als ihren Sender empfunden haben. Mitteldeutschland folgt in seinen Umrissen ja dem alten Wettiner Reich, aber landsmannschaftlich geht es stark auseinander. Sachsen und Thüringer unterscheiden sich deutlich, Sachsen-Anhaltiner haben ein Problem mit einer eigenen Landesidentität. Von einer mitteldeutschen Identität kann man daher nicht sprechen, eher von einem gewissen Zusammengehörigkeitsgefühl. Das ist aber weniger landsmannschaftlich als durch die gemeinsame Ost-Vergangenheit geprägt. Wir sind ja der einzige ostdeutsche Sender…

…und sind da in die Vollen gegangen. Sie wollten für das MDR-Fernsehen Gregor Gysi als Talkmaster und verteidigten Achim Mentzel als den Unterhalter unter Ostdeutschlands Fernsehsonne. So ostalgisch wie clever.

Der Ostalgie-Effekt war kalkuliert. Bei Politik, Wirtschaft, Kultur haben wir das Programm von Grund auf erneuert, aber in der Unterhaltung haben wir bewusst an DDR-Traditionen angeknüpft. Das hat vielen Leuten gut getan, für die sich damals ja alles verändert hat. Wenigstens die Schlagersänger und die Unterhaltungskünstler sind die alten geblieben – das war psychologisch nicht verkehrt. Das hat zur Zustimmung zum Mitteldeutschen Rundfunk sicher beträchtlich beigetragen.

Opportunismus als Mittel zum Erfolg?

Wenn Sie es so nennen wollen. Ich halte es eher für kluge Programmpolitik. Spezifische Bedürfnisse zu bedienen, heißt zunächst einmal, ins Publikum hinein und nicht am Publikum vorbei zu senden. Beim NDR trecken die Nordseewellen an den Strand, beim BR gibt es viel Weiß-Blaues, Regionalprogramme gehen eben auf regionale Befindlichkeiten ein, das ist ihre Aufgabe und macht ihren Erfolg aus.
Ich habe mich in der Anfangszeit mit sehr vielen Leuten unterhalten und dabei schnell gemerkt, dass die Lage nicht so ist, wie sich das viele von uns vorgestellt hatten: Wir kommen her, bauen den Leuten einen schönen neuen Rundfunk, und ernten dafür Dankbarkeit. So war das natürlich nicht. Hier gab es viel Hoffnung und Aufbruchstimmung, aber auch Enttäuschung und verletztes Selbstwertgefühl, das durch das unangemessene Auftreten vieler Westler zusätzlich befördert wurde. Ich habe von Anfang vorgegeben: Wir sind hier nicht die Sieger, sondern Gäste und benehmen uns auch so. Wir hören zu und lassen uns auch etwas sagen.

Ist dieses Ossi-Wessi-Gerede nur ein Mediengeschwätz und der Realität längst nicht mehr angemessen?

Manche Kommentatoren haben beschlossen, das sei Schnee von gestern. Ich habe den Eindruck, es ist wieder im Kommen – vielleicht mit abnehmender Tendenz bei den ganz Jungen.

Was ist der Ossi dann? Nicht mehr der „Jammer-Ossi“, sondern ein erfolgreicher Wanderer zwischen der alten und der neuen Welt?

Aus meiner Sicht war die Umstellung auf eine völlig neue Gesellschaft eine enorme Leistung der Ostdeutschen. Das gesamte Leben musste von heute auf morgen nach Gesetzmäßigkeiten geordnet werden, die den Leuten völlig fremd waren. Da steckt jede Menge Anpassungsfähigkeit und Durchhaltevermögen dahinter. „Jammer-Ossi“ kann man so etwas wirklich nicht nennen. Das ist hochmütig und dumm.

Spricht da der „Ehren-Ossi“? Was haben die 20 Jahre aus Udo Reiter gemacht?

Ich habe mich sicher verändert. Früher war ich geachtetes Mitglied der Münchner Bussi-Gesellschaft. Das ist mir später immer fremder geworden. Umgekehrt ging es den Leuten dort mit mir offenbar auch so: „Der Reiter“, hab ich einmal zufällig gehört, „der war doch früher ein netter Kerl, was ist aus dem nur geworden?“

Und der Osten, was ist aus dem geworden?

Ich habe das Gefühl, dass es hier zwei gegenläufige Entwicklungen gibt. Es gibt ohne Frage eine Schicht in der ostdeutschen Bevölkerung, die den Anschluss nicht geschafft hat. Sie brauchen in Leipzig nur durch bestimmte Stadtteile gehen, dann sehen sie das. Und es gibt die Mehrheit, die in der neuen bundesdeutschen Gesellschaft angekommen ist und es mit dem alten Westen spielend aufnimmt.

Was sind Sie jetzt: Ein Gesamtdeutscher mit westdeutschen Wurzeln, so wie Angela Merkel eine Gesamtdeutsche ist mit ostdeutschen Wurzeln?

Natürlich habe ich westdeutsche Wurzeln. Hier habe ich aber, wenn Sie so wollen, zusätzliche Wurzeln geschlagen und zum ersten Mal in meinem Leben Heimatgefühle entwickelt. Das hängt sicher auch mit dem Alter zusammen. Früher hatte ich eher eine Söldner-Mentalität: Ich bin da hingegangen, wo etwas los war. Aber wenn ich jetzt in mein Dorf komme, das liegt am Rand von Leipzig, da habe ich das Gefühl, ich komme nach Hause.

Für viele Westdeutsche ist Stasi nur ein Begriff, für die meisten Ostdeutschen erlebte, gelebte Realität. Hat sich Ihre Einstellung dazu in der Weise geändert, wie sich Ihr Wissen darum vermehrt hat?

Ich denke ja. Man hatte vorher im Westen ja relativ wenig Ahnung. Je mehr ich gelesen und erfahren habe, umso mehr wurde mir klar, wie wenig dieses Schlagwort, dieser Stempel „Stasi“ für das taugt, was im Einzelnen und beim Einzelnen doch sehr differenziert war.

Zwei Mal sind die Mitarbeiter des MDR „gegauckt“ worden. Ist beim MDR das Thema Stasi stellvertretend für die Gesellschaft geführt worden?

Wir haben es unter den Augen der Öffentlichkeit getan. Es war ein notwendiger, ein schmerzhafter Prozess und vielleicht auch stellvertretend absolviert für andere. Man merkt dabei auch, wo die Grenzen der irdischen Gerechtigkeit liegen. Ich bin mir nicht bei allen Fällen, die wir bereinigt haben, sicher, dass es das höchste Maß der Gerechtigkeit war, das wir durchgesetzt haben. Aber mir ging es damals vor allem darum, den Sender aus den Schlagzeilen zu bringen, die Angriffsfläche weg zu bekommen. Das hat für manchen Betroffenen sicher eine besondere Härte bedeutet. Aber da gilt dann das Motto: Der Hof ist wichtiger als der Bauer.

Hätte jemand wie Volkmar Schöneburg, der Mitglied der Linkspartei ist und gerade zum Justizminister in der rot-roten Landesregierung von Brandenburg gewählt wurde, eine Chance auf eine Anstellung im MDR? Schöneburg wird vorgeworfen, er relativiere den „Unrechtsstaat DDR“.

Nach unseren Kriterien schlicht: nein. Ich bin inzwischen auch öfters gefragt worden, ob wir heute, so viele Jahre nach dem Fall der Mauer, den einen oder anderen Fall nicht anders sehen und wieder aufgreifen könnten. Meine Antwort ist nach wie vor: Das Thema ist für uns abgeschlossen, das Fass machen wir nicht mehr auf. Was Ministerpräsident Matthias Platzeck zur Versöhnung nach 20 Jahren gesagt hat, kann ich gleichwohl nachvollziehen. Alle Dinge nehmen einmal ein Ende, die guten wie die bösen.

Das Interview führten Thomas Eckert und Joachim Huber.

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