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Hat Gesprächspartner aus vielen Ländern. Die 21-jährige Tala arbeitet bei einem jordanischen Internetradio.

© micro.radio

Junges Forum in traditioneller und konservativer Gesellschaft: Arabische Radio-Revolutionen

Im Nahen Osten verzeichnen Podcasts und Internetformate Corona-bedingt hohen Zulauf. Die Macher geben der jungen Generation damit eine Stimme.

Montagabend, 21 Uhr in der jordanischen Hauptstadt Amman: Die 21-jährige Tala beginnt ihre wöchentliche Radiosendung. Bei „Elephant in the Room“ kommen Menschen zu Wort, die im Nahen Osten sonst oft ungehört bleiben. Frauen, die häusliche Gewalt erfahren haben, Studentinnen mit psychischen Problemen oder heute: ein ägyptischer Homosexueller, der über die Reaktionen auf sein Schwulsein in der arabischen Welt spricht. Hunderte Menschen hören zu. So wie mittlerweile jeden Montag. In der Ankündigung für die heutige Ausgabe von „Elephant in the Room“ ist der junge Gast anonymisiert, es gibt keinen Namen, kein Foto. Vorsichtsmaßnahmen, die sowohl den zugeschalteten Ägypter als auch den Radiosender von Tala schützen sollen. Homosexualität ist – mit Ausnahme von einigen wenigen Ländern im Nahen Osten – nach wie vor ein Tabuthema. Darüber öffentlich zu reden, kann schwerste Konsequenzen haben.

Hinter Talas Sendung steckt „micro.radio“, ein jordanisches Internetradio, 2019 gegründet. Dana und Sharaf sind beide in den Zwanzigern und haben die Plattform nach über einem Jahr der Planung ins Leben gerufen. Die beiden Jordanier waren genervt von der poplastigen Musikszene in Amman und wollten etwas Neues schaffen. „Es gab schon immer eine Szene in Amman, in der intensiv über Musik diskutiert wurde, in der Techno und Elektro gehört wird. Wir wollten dieser Nische Gehör verschaffen und kamen so auf die Idee, einen eigenen Radiosender zu gründen“, sagt Dana, die eigentlich als Designerin arbeitet.

Dem Sender geht es auch darum, Musik wie Techno und Elektro Raum zu geben.
Dem Sender geht es auch darum, Musik wie Techno und Elektro Raum zu geben.

© micro.radio

Neben dem musikalischen Schwerpunkt von micro.radio entschieden sich Dana und Sharaf dazu, Menschen und Themen ein Forum zu bieten, die sonst in der immer noch sehr traditionellen konservativen jordanischen Gesellschaft kein Gehör finden. Neben „Elephant in the Room“ gibt es eine Sendung, in der über klassische arabische Musik und nahöstliche Geschichte gesprochen wird. In einer anderen verfolgen zwei Moderatoren das Konzept, dass es kein Konzept gibt. Über Stunden wird einfach über das geredet, was den beiden Sprechern in den Sinn kommt. Als Zuhörer fühlt man sich, als würde man mit einem Glas Wein gemeinsam mit den Moderatoren im Wohnzimmer sitzen.

Micro.radio versucht, die diversen Interessen einer jungen Generation abzubilden, die sich von der etablierten jordanischen Medienlandschaft nicht vertreten fühlt. Gesendet wird mittlerweile fast rund um die Uhr, nahezu ausschließlich auf Englisch. In den vergangenen Wochen ist die Anzahl der Zuhörer enorm gestiegen. Auch in Jordanien galten lange strenge Ausgangsbeschränkungen, um Covid-19 einzudämmen. Die Menschen blieben zu Hause und hörten Radio. So wie auch anderswo im Nahen Osten.

Überall in der Region erleben Audioformate und Internetradios einen Aufschwung. Die Szene wächst fast täglich, schnell kann man den Überblick verlieren. Aus Ramallah sendet „Radio Nard“, „radiokarantina“ aus Beirut, auch hier werden Tabus gebrochen, auch hier kommen vor allem junge Menschen einer arabischen Generation zu Wort, die für viele im Westen bisher unsichtbar war.

Abir Ghattas ist Libanesin und lebt seit vier Jahren in Berlin. Die 32-Jährige arbeitet für Human Rights Watch und ist eine der Gastgeberinnen des Weddinger Gesprächszirkels „Hammam Talks“, der sich selbst als „monatliche Frauen-Talkshow“ definiert. Ähnlich wie in den alten osmanischen Bädern soll die Runde dazu einladen, mit anderen ins Gespräch zu kommen. Auch türkische Hammams galten als Orte, an denen die Gesellschaft aufeinandertrifft, miteinander Zeit verbringt, sich austauscht und organisiert. Das gleiche Konzept verfolgt Abir Ghattas, nur dass Corona ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Das Talkformat kann bis auf Weiteres nicht mehr stattfinden.

Für das Equipement ist nicht viel Platz nötig.
Für das Equipement ist nicht viel Platz nötig.

© micro.radio

Doch Ghattas schaffte sich eine Alternative und gründete gemeinsam mit ihrer Freundin Rasha Hilwi ein Internetradio. Aus „Hammam Talks“ wurde kurzerhand „Hammam Radio“. Das Radioformat ist feministisch; Männer sind zwar als Zuhörer willkommen, moderiert wird jedoch nur von „Menschen, die sich als Frau identifizieren“, so Ghattas. Dahinter steckt das Konzept, Frauen einen Raum zu geben: „Männer sind omnipräsent, obwohl sich gerade in der momentanen Krisenzeit zeigt, dass Frauen wichtiger denn je sind. All die systemrelevanten Berufe sind klassische Frauenberufe", sagt Ghattas und zählt Kassiererinnen, Krankenpflegerinnen und Lehrerinnen auf. Die Zuhörerinnen und Zuhörer von Hammam Radio leben überall auf der Welt, auch dort wird größtenteils auf Englisch gesendet. Zurzeit steigen die Abrufzahlen vor allem in Saudi-Arabien, dem Jemen und Kuwait, da einige Moderatoren aus diesen Ländern kommen. Geredet wird über Pferdezucht, LGBTQ-Themen und sexuellen Missbrauch. Ähnlich wie beim jordanischen micro.radio ist das Themenspektrum divers. Das kommt an und ist für die Libanesin Ghattas gar der Ursprung einer neuen Bewegung: „Radio ist das perfekte Medium für diese Themen. Radio bedeutet Schutz, es ist anonym, man sieht niemals ein Gesicht und fühlt sich den ZuhörerInnen doch so nah.“

Auch Moderatorin Tala sieht das ähnlich. Mit all diesen neuartigen Radioformaten wolle man Menschen ermutigen, ihre eigene Geschichte zu erzählen, dabei über bisherige Grenzen hinauszudenken und kulturelle und gesellschaftliche Normen zu verschieben, so Tala. Jetzt müsse sie aber wirklich los, sagt die 21-Jährige zum Abschied. Die nächste Sendung muss vorbereitet werden.

Julius Geiler

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