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Sie will in den Krieg ziehen. Julia Heidhäuser (Mala Emde) bei Kommissar Borowski (Axel Milberg). Sarah Brandt (Sibel Kekilli, re.) hält dem Mädchen den Spiegel vor.

© NDR/Christine Schroeder

Kieler "Tatort": Gewagter Krimi über 17-jährige Islamkonvertitin

Der ARD-Tatort nimmt sich am Sonntagabend ein beklemmend aktuelles Thema vor. Brandt und Borowski müssen sich in die Identitätsfindung einer Jugendlichen hineinfühlen.

Julia stört. Irgendwie gehört die 17-Jährige nicht in diese bürgerliche Welt, in die Schule, zu ihren Freundinnen, zu ihrer alleinerziehenden Mutter, zu ihrem Bruder. In der City treffen sie feindselige Blicke. Ein Passant spuckt vor der schwarz verhüllten Muslimin auf den Boden. Nur eines zieht sie an, scheint ihr Sicherheit zu geben, Bindung: eine Moschee in Kiel. „Liebe Mama, wenn du das hier liest, werde ich nicht mehr da sein“, schreibt sie. Die Kieler Schülerin (Mala Emde) ist zum Islam konvertiert, sie will nur noch nach Syrien und dort einen IS-Kämpfer heiraten.

Da einen „Tatort“-Krimi drauf zu setzen, das ist gewagt. Es braucht den Mord an Julias Mitschülerin Maria, die tot aus der Kieler Förde gezogen wird. Julia beschuldigt ihren Bruder. Schnell wird klar, Kommissar Klaus Borowski (Axel Milberg) und Kollegin Sarah Brandt (Sibel Kekilli) hatten schon einfachere Ermittlungen. Nicht nur Julias immer offenbarer werdende Verstrickungen in die nach außen verschlossene Welt der Moschee, auch der Staatsschutz in Person von Kesting alias Gaststar Jürgen Prochnow behindern ihre Arbeit.

Eine raffinierte Idee der Autorin Charlotte I. Pehlivani, hier den Ermittler-Fokus auf Sarah Brandt zu legen. Während der routiniert agierende Axel Milberg in diesem 999. „Tatort“ in Gedanken wohl schon bei der Jubiläums-Ausgabe am kommenden Sonntag ist (die er zusammen mit Maria Furtwängler bestreiten darf), scheint sich Sarah Brandt besser in die Identitätsfindung einer Jugendlichen hineinfühlen zu können, die in einem religiösen Irrweg zu scheitern droht.

Der NDR sei mit Sibel Kekilli im Gespräch

Seit sechs Jahren bereits dreht Sibel Kekilli für den „Tatort“ aus Kiel, neben Borowski. Anfangs sprach man oft über den Ermittler, der sich am Telefon grummelnd mit den Worten meldet: „Ich höre!?“ Sarah Brandt, die IT- und Selbstverteidigungs-Spezialistin, brachte in die Serie Fläche, Erde, Wärme. Ein Team auf Augenhöhe.

Zuletzt gab es Gerüchte über einen Ausstieg der Schauspielerin aus dem Krimi. Kekilli hat sich auch inÜbersee einen Namen gemacht, als Darstellerin in der HBO-Fantasy-Serie „Game of Thrones“. Laut „Bild“-Zeitung gebe es derzeit gar keinen Vertrag mehr zwischen Kekilli und dem Norddeutschen Rundfunk. Diese Informationen könne der NDR nicht bestätigen, sagt Thomas Schreiber, Leiter des Programmbereichs Fiktion & Unterhaltung.

„Frau Kekilli hat ausdrücklich gesagt, dass sie nicht nach Hollywood geht, und über ihre nächsten ,Tatort’-Auftritte sind wir im Gespräch.“ Der nächste Kieler „Tatort“ werde frühestens in einem halben Jahr gedreht, es liege noch kein abgenommenes Drehbuch vor.

Wie auch immer, Klaus Borowski, der Mürrische, der Kantige, und Sarah Brandt, die Widersprüchliche, Fragile, die an Epilepsie leidet, sind beides Eigenbrötler, Moralisten auf ihre Weise. Eines der interessantesten „Tatort“-Teams. Wann sind TV-Kommissare zuletzt in die Welt einer Salafisten-Gemeinde und in die Psyche einer „Kriegerin Gottes“ eingetaucht?

Stark die Szene, als Sarah Brandt Julia vorhält, um welchen Preis der Selbstaufgabe die junge Frau ihr Leben dem IS in die Hände legen will, eine Welt, in der Frauen nichts zu sagen haben. Da wird die Tätersuche zur Nebensache und der Hintergrund der Story noch realer.

„In Deutschland sind 9000 Salafisten aktiv“, sagt Marwam Abou Taam, Islamwissenschaftler und Terrorismusexperte beim LKA Rheinland-Pfalz. Knapp 900 Personen seien aus Deutschland ausgereist, davon um die 180 Frauen. Ein Krimi also als Versuchsanordnung, über die Bedrohungen des radikalen Islamismus, die mörderische Ideologie des Islamischen Staates, die Psyche einer jungen Islamkonvertitin.

In Szene gesetzt vom Doku-Drama-Spezialisten Raymond Ley, der den TV-Krimi eine dokumentarische Farbe spüren lässt. Inklusive Aufnahmen von IS-Kämpfern und Hunderte von Flüchtlingen, die im Kieler Kommissariat untergebracht werden.

Und Julia? Die Kamera folgt der jungen Frau und ihrer bürgerlichen Welt, hier die zunehmende Distanz, dort die Nähe zu den Ritualen in der Moschee, wohinter Gutes oder Böses stecken mag. Oder schon bald wieder Distanz. Der NDR hat sich mit diesem unklassischen, beklemmenden „Tatort“ weit aus dem Fenster gelehnt. Er sollte mit einer guten Quote belohnt werden, auch wegen der grandiosen Hauptdarstellerin Mala Emde.

„Tatort - Borowski und das verlorene Mädchen“, Sonntag, ARD, 20 Uhr 15

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