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Zwischen Mitternacht und sechs Uhr morgens rufen die Familien im Studio von Moderator Huber Hoyos (l.) an, um ihre Botschaften zu senden.

© F. Meyer-Hawranek

Kolumbien: Das Geisel-Radio

"Stimmen der Entführten" heißt eine Radio-Sendung, die viele Menschen in Kolumbien bewegt. Darin kontaktieren Familien ihre entführten Angehörigen. Es sind nicht wenige.

Es knackst und zerrt. Die Telefonverbindung ist schlecht, immer wieder stockt die Übertragung. Doch die Frau redet unbeirrt weiter. Live on air auf Kolumbiens wichtigstem Radiosender spricht die Mutter zu ihrer Tochter, die 2004 von den Farc, den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens, entführt wurde.

„Meine Liebe. Hör den Vögeln zu!“, sagt die Frau zu ihrer Tochter. „Wenn du genau aufpasst, dann merkst du, dass sie dir meine Gebete und Botschaften vorsingen.“ Dann folgt eine lange Liste an Segenswünschen der gesamten Familie. Seit acht Jahren ist die Radiosendung „Las Voces del Secuestro“, zu Deutsch „Die Stimmen der Entführten“, für die Mutter die einzige Möglichkeit, Kontakt zu ihrer Tochter zu halten.

Das Programm läuft seit 18 Jahren auf Caracol Radio, dem einflussreichsten Sender Kolumbiens mit Sitz in der Hauptstadt Bogotá. Das Prinzip der Sendung ist so einfach wie eindrucksvoll: Jede Woche in der Nacht von Samstag auf Sonntag können Familien ihren entführten Angehörigen Botschaften schicken. Zwischen Mitternacht und sechs Uhr morgens.

Mehr als 2600 Menschen sind in den vergangenen zehn Jahren in Kolumbien entführt worden – viele verschwinden für mehrere Jahre. Heute werden noch etwa 500 Menschen gefangen gehalten, vermutet Huber Hoyos, Moderator und Leiter der Sendung. Um Lösegeld zu erpressen, politischen Druck auszuüben oder Familien einzuschüchtern. „Dabei hat sich die Guerilla dazu verpflichtet, niemanden mehr zu entführen“, sagt Hoyos. Aber seit sie das mitteilte, hat sie schon wieder mindestens zwei Leute verschleppt – wahrscheinlich noch mehr. Aus Angst um ihre Angehörigen machen viele Familien die Entführungen gar nicht öffentlich.

In dieser Nacht spricht Elvira Londoño aus Cartagena ihrem Sohn Mut zu, er wurde 2002 entführt. Janeth Rosas grüßt ihren Bruder, seit 15 Jahren ist er verschwunden. Marta Cardona ruft an, um zu ihren Brüdern Alirio und Jesus zu sprechen, seit 1989 hat sie sie nicht gesehen. Antworten können all die Entführten nicht, ihre Angehörigen können nur hoffen, dass sie die Botschaften hören – und die Wahrscheinlichkeit ist nicht gering.

„Alle, die freikommen, bestätigen, dass sie die Sendung regelmäßig gehört haben“, sagt Alfonso Jiménez, der Oberst beim kolumbianischen Militär ist und in dieser Nacht mit im Studio sitzt. Denn neben den Anrufern lesen auch jede Woche Angehörige des Militärs Botschaften vor. „Es ist ganz wichtig, dass ,Stimmen der Entführten’ in einem der großen Radiosender läuft“, sagt Jiménez. Nur so komme das Programm auch im letzten Winkel des Landes an.

Die Guerilla hielt auch einen Journalisten gefangen

Um 1 Uhr 24 tritt Hoyos im achten Stock des Caracol-Hochhauses in den Vorraum des Radiostudios. „Wie viele Anrufer haben wir noch in der Warteschleife?“, fragt er die drei Helfer, die die Botschaften der Familien per Telefon entgegennehmen – wieder einmal sind es mehr Anrufer, als Hoyos Sendezeit zur Verfügung hat.

Eigentlich ist Hoyos’ Bruder Herbin der Gründer des Programms. Doch er bekam Morddrohungen, floh nach Europa. Jetzt verbringt Huber Hoyos die Nächte zum Sonntag am Mikrofon.

Jede Geschichte hinter einer Entführung ist grausam, sagt Hoyos. „Und obwohl jede Familie auf ihre eigene Weise leidet, gibt es doch einen Schmerz, der alle verbindet: die Abwesenheit eines geliebten Angehörigen, von dem man nicht weiß, was mit ihm passiert ist.“

Dass sich die Farc, die älteste Guerilla Kolumbiens, wirklich nicht an ihre Abmachung halten, niemanden mehr entführen zu wollen, hat auch der Fall von Roméo Langlois gezeigt: Ende April hat die Guerilla den französischen Journalisten verschleppt, als dieser das Militär bei einem Einsatz gegen Drogenlabore im Dschungel filmte. 32 Tage hielten die Farc den verletzten Langlois im Dschungel gefangen. Über „Voces del Secuestro“ schickten viele Hörer Botschaften, den Journalisten freizulassen. Am Mittwoch übergab die Farc den Journalisten dem Roten Kreuz.

Um auch auf die Entführten aufmerksam zu machen, deren Verschwinden bisher noch nicht bekannt ist, hat Moderator Huber Hoyos den Verein „Los que faltan“, „Die, die immer noch fehlen“, mitgegründet. Allein im ersten Monat konnten so 50 neue Entführungsfälle dokumentiert werden, beispielsweise der eines Mädchens, das 1997 verschleppt wurde. Jetzt, nach 15 Jahren, haben die Eltern zum ersten Mal öffentlich über die Entführung ihrer Tochter gesprochen. Und haben ihr in der Nacht vom Samstag zum Sonntag eine Radiobotschaft geschickt.

Florian Meyer-Hawranek[Bogotá]

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