zum Hauptinhalt
Selektive Wahrnehmung. Super RTL ist nach einer Studie der meistgesehene deutsche Sender von Deutsch-Türken. Debatten wie über Thilo Sarrazin, der hier für einen ZDF-„Aspekte“-Beitrag durch Kreuzberg ging, sind dort weniger zu finden. Foto: dpa

© dpa

Mediennutzung von Migranten: Deutsche Sender? Nein, danke

Lieber Super-RTL als Öffentlich-Rechtlich: Warum ein Großteil der Türken in Deutschland von der Sarrazin-Debatte nicht viel mitbekommen hat.

Den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nutzen sie so gut wie nicht. Ihr liebster deutscher Fernsehsender hat nur einen Marktanteil von rund vier Prozent: Die in Deutschland lebenden Türken sehen und hören überwiegend türkischsprachige Medien. Da muss es auch nicht verwundern, dass ein Großteil der Deutsch-Türken laut Marktforschern von der Sarrazin-Debatte, jener Diskussion um die vermeintliche Integrations-Misere, beispielsweise lange Zeit gar nichts mitbekommen hat.

Obwohl in Deutschland rund drei Millionen Deutsch-Türken leben, ist deren Medienkonsum kaum untersucht: Aus Kostengründen erhebt die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) nur die TV-Einschaltquoten von Deutschen und EU-Ausländern. Türken oder auch Russen sind außen vor. Doch das private Berliner Marktforschungsinstitut Data 4U erforscht den Medienkonsum türkischer Migranten seit mehr als 15 Jahren. In Deutschland lebende Türken nutzen 80 Prozent ihrer Zeit, in der sie auf Medien zugreifen, mit türkischsprachigen Sendern, sagt Joachim Schulte, Geschäftsführer von Data 4U. „Kurz nach dem Höhepunkt der Sarrazin-Debatte haben wir eine deutschlandweite repräsentative Umfrage gemacht.“ Nur 38 Prozent der im Herbst 2010 befragten Türken hätten die Sarrazin-Debatte mitbekommen.

„Aufgrund wichtiger innenpolitischer Ereignisse fand die Sarrazin-Debatte in den türkischen Medien anfangs kaum statt“, sagt Umut Karakas, die ebenfalls Geschäftsführerin von Data 4U ist. Ein großer Teil der türkischen Frauen in Deutschland lebe noch immer sehr zurückgezogen und nutze fast ausschließlich türkische Medien. Inzwischen habe Thilo Sarrazin durch seinen Auftritt in Kreuzberg jedoch eine gewisse Bekanntheit erreicht. Sarrazin sei sehr geschickt darin, sich zu vermarkten, eine Partei in der Türkei habe das Thema nun aufgegriffen. Aktuelle Zahlen zu Sarrazins Bekanntheit gibt es jedoch nicht.

Marktforscher Schulte wirft dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk vor, ein Alibi-Programm zu machen. Dieses spreche die türkischen Bürger nicht an. „Ein türkischer Kommissar reicht nicht aus“, erklärt Schulte in Anspielung auf den ehemaligen „Tatort“-Kommissar Mehmet Kurtulus vom NDR. Viele Türken würden von den Karrieren ihrer Landsleute im Rundfunk und Fernsehen überhaupt nichts erfahren, der Einfluss deutscher Medien auf die türkischstämmige Bevölkerung werde allgemein überschätzt.

Muttersprachliche Medien auch bei Russen erste Wahl

Nach einer repräsentativen Befragung von Data 4U ist Super RTL, das Kinderprogramm, bei Deutsch-Türken mit vier Prozent Marktanteil der meistgesehene deutsche Fernsehsender. Türkische Fernsehsender strahlen sehr viel weniger Kindersendungen aus. Die meistgesehenen Sender bei Deutsch-Türken sind ATV und Euro D. Beides sind Privatsender, die in etwa mit RTL und ProSieben vergleichbar sind. Die Untersuchung der Marktforscher haben ergeben, dass Türken auch dann türkisches Fernsehen schauen, wenn sie die deutsche Sprache gut beherrschen. Die Ursache seien kulturelle Unterschiede, sagt Umut Karakas. „Integration bedeutet nicht, die eigene Identität aufzugeben.“

Die meistverkaufte türkische Tageszeitung in Deutschland ist die „Hürriyet“ mit rund 36 000 Exemplaren. Als Boulevardzeitung gewinnt sie ihre Leser jeden Tag am Kiosk. „Abonnements machen nur rund zwei Prozent der Auflage aus“, sagt Vertriebsleiter Halil Dölek. Der Hauptsitz der Zeitung ist in Istanbul. In Deutschland, wo die Europaausgabe produziert wird, beschäftigt die Zeitung mehr als 20 Redakteure. Die zweitgrößte Zeitung ist die „Zaman“ mit einer Auflage von rund 24 000 Stück. Auch ihre Zentrale liegt in der Türkei. Bedenkt man, wie viele türkischsprachige Menschen in Deutschland leben, haben weder die „Hürriyet“ noch die „Zaman“ eine hohe Auflage.

Auch bei anderen Bevölkerungsgruppen wie die rund drei Millionen Bürger aus der ehemaligen Sowjetunion – wenn man die Spätaussiedler dazurechnet – haben sich muttersprachliche Medien etabliert. Die wichtigsten dieser Medien sitzen in Berlin. So auch der meistgehörte russischsprachige Radiosender „Radio Russkij“. Er bringt nur russischsprachige Beiträge. Über die UKW-Frequenz 97,2 in Berlin und das Internet erreicht er deutschlandweit 35 000 Hörer pro Stunde.

Die größte nicht-deutschsprachige Zeitung in Deutschland überhaupt produzieren ebenfalls Redakteure aus Berlin. Die Wochenzeitung „Evropa-Ekspress“ verkauft laut Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern wöchentlich rund 73 500 Exemplare. Ihr Chefredakteur, Michail Goldberg, sagt: „Das junge Publikum liest, wenn überhaupt, deutschsprachige Zeitungen. Unsere Leser haben meist ein Alter von 35 Jahren aufwärts.“ Wie auch die deutschen Printmedien verzeichnet der „Evropa-Ekspress“ einen leichten Auflagenrückgang. In Berlin erscheint der „Evropa-Ekspress“ unter dem Namen „Berlinskaya Gazeta“.

Die Zeitung unterscheidet sich nicht nur dadurch, dass sie mehr über das Geschehen im russischen Raum berichtet und ein Korrespondentennetzwerk in Russland hat. „Wir haben viel mehr Verbraucherinformationen“, sagt Goldberg. Die Zeitung klärt ihre Leser zum Beispiel darüber auf, wie man deutscher Staatsbürger wird. Bei Artikeln über Urlaubsziele berücksichtigen die Journalisten, ob ein Visum für diese Länder notwendig ist. Außerdem berichtet das Medium über Einwanderer, die in Deutschland Erfolge erzielt haben. Der Chefredakteur fordert die deutschen Medien dazu auf, objektiver über die russische Gemeinschaft zu schreiben. „Die deutschen Zeitungen berichten nicht viel über die Russen – und wenn, dann in kriminellen Zusammenhängen.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false