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Medien: Medienrepublik (19)

Im "Spectator", einer konservativen britischen Zeitschrift, beliebt vor allem bei Intellektuellen, erschien nach dem Freitod von Hannelore Kohl ein Aufsatz. Der Autor Andrew Gimson wunderte sich über die deutsche Presse.

Im "Spectator", einer konservativen britischen Zeitschrift, beliebt vor allem bei Intellektuellen, erschien nach dem Freitod von Hannelore Kohl ein Aufsatz. Der Autor Andrew Gimson wunderte sich über die deutsche Presse. Ein Fall wie dieser, so seine These, hätte in Großbritannien oder den USA alle namhaften Reporter elektrisiert. Warum geben die Deutschen sich mit den offiziellen Erklärungen zufrieden, fragte Gimson. "Es gibt in Deutschland einen moralischen Ernst, den wir, in unserer dekadenten Frivolität, längst verloren haben. Und es gibt in Deutschland eine beinahe kriminelle Naivität, wenn es darum geht, über die Aktivitäten von jemandem wie Helmut Kohl zu berichten, ein vorsätzlicher Wille, seine Selbsteinschätzung für die Wahrheit zu halten. Es herrscht das Gefühl vor, es sei geschmacklos, Fragen zu stellen."

Die Journalisten müssen nach der Wahrheit suchen. Wahrheit ist wichtiger als Pietät. Man hätte einen der großen Spürhunde des deutschen Journalismus auf den Fall ansetzen müssen, monatelang, wenn es sein muss. Jemanden, der die letzten Lebenstage von Hannelore Kohl Zeugenaussage für Zeugenaussage zusammensetzt und erzählt. Jemanden wie Tom Wolfe oder Truman Capote. Diesen Mut hatte niemand. Neugierde ist gut, aber ohne Mut ist Neugierde nicht viel wert. Stattdessen findet um den Tod von Hannelore Kohl eine politische Deutungsschlacht statt. Nächster Höhepunkt: der angekündigte Vorabdruck von Peter Kohls Buch über seine Mutter in der "Bunten". Die Version der liebevollen Musterehe, die Helmut Kohl in den Talkshows verbreitet, oder die Version von Hannelore als Opfer eines Karrieremaschine, die Kohls Gegner bevorzugen - vielleicht stimmt keine von beiden. Es ginge in der Geschichte, die keiner zu schreiben wagt, auch nicht um Politik im engeren Sinn, sondern - vielleicht - um den Politikbetrieb und das, was er aus Menschen macht. Eines weiß man aber: Um die Wahrheit herauszufinden, genügt es in der Regel nicht, einfach einen Hauptbetroffenen sich selbst darstellen zu lassen. Nicht, dass sie lügen (obwohl auch das vorkommt). Aber man selber weiß manchmal am wenigsten über sich und seine Lebensumstände. Distanz hilft oft, die Dinge genauer zu sehen. Distanz ist manchmal hilfreicher als Nähe. Und je komplizierter es wird, desto mehr Puzzlesteine braucht man. Nein, die Talkshow kann den Journalismus nicht ersetzen.

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