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Medien: Medienrepublik (83)

Malte Lehming über die schwersten Tage der „New York Times“ Schreiben macht frei. Man tippt sich seine Komplexe von der Seele.

Malte Lehming über die schwersten Tage der „New York Times“

Schreiben macht frei. Man tippt sich seine Komplexe von der Seele. Wer sich in Journalistenkreisen umhört, stellt das rasch fest. Der Drang, seinen Namen über einem Artikel zu sehen, der von hunderttausend Menschen gelesen wird, zeugt erstens von Geltungssucht, zweitens von Kompensationstrieb. Legendär ist die Geschichte jenes jungen Volontärs, der am Tag, als sein erster Text veröffentlicht wurde, stundenlang mit der UBahn herumfuhr, um Reisende beim Lesen seines Beitrags zu beobachten. Er genoss das. Es erfüllte ihn mit Stolz. Wer schreibt, will wirken, Anerkennung, Ruhm. Die Moral kommt manchmal zu kurz.

Die „New York Times“ rühmt sich, die beste Zeitung der Welt zu sein. Sie ist gründlicher, sachlicher und kritischer als die anderen. Tatsachen werden geprüft, Fehler korrigiert, Berichte und Kommentare strikt voneinander getrennt. Doch nun hat es sie hart erwischt. Die letzten Tage seien „schlimmer als der Tod“ gewesen, klagt ein Reporter. Der Fälschungsskandal um den jungen, schwarzen Star-Journalisten Jayson Blair hat das Blatt in eine Krise gestürzt. Viele Jahre lang hatte Blair Fakten erfunden, verdreht, geklaut. Trotz mehr als 50 Richtigstellungen und einiger interner Warnungen ließ man ihn nicht nur gewähren, sondern beförderte ihn sogar. Am Ende war er berühmt. Blair schrieb über die Heckenschützen von Washington und führte Interviews mit Familien von US-Soldaten, die im Irak-Krieg kämpften. Er wurde gelesen. Ein steiler Aufstieg.

Am Mittwoch stellte sich die Führungsspitze der „Times“ ihren erbosten Mitarbeitern. Etwa 500 davon drängten sich in einen eigens angemieteten Kinosaal. Es ging hoch her. Ein Kulturkampf ist entbrannt in den amerikanischen Medien. Weil Blair ein Schwarzer ist und Minderheiten von der „Times“ gezielt gefördert werden, wittern konservative Kräfte als Grund des Skandals ideologisch begründete Rücksichtnahme. Ein Weißer, behaupten sie, wäre sofort gefeuert worden. Selbst im eigenen Haus kursiert die Frage, ob die „Times“ das Opfer einer falsch verstanden „political correctness“ geworden sei. Ob er – „ein weißer Mann aus Alabama“ – dem jungen Blair eine Chance zu viel gegeben habe, sinniert der zerknirschte Chefredakter Howell Raines. „Wenn ich in mein Herz schaue, um die Antwort zu finden, lautet die Antwort Ja.“

Diese Debatte sei eine Frechheit, schallt es aus der liberalen Ecke zurück. Der Fall Blair werde instrumentalisiert. Schwarze Schafe gebe es im Journalismus auch unter Weißen. In der Tat ist die Neigung zu Lug und Betrug keine ethnospezifische Eigenschaft. Jede freie Zeitung dieser Welt lässt sich durch gerissene Aufschneider zum Narren halten. Zumindest eine Zeitlang. Blair war 22, als ihn die „Times“ einstellte. In diesem Alter gibt es selten Genies, wenige Spürhunde und einige Talente. Der Druck auf die jungen Reporter ist groß und mischt sich mit ihrer Eitelkeit zu einem gefährlichen Motivationsgebräu. Am liebsten würden sie täglich einen Politiker stürzen, einen Skandal enthüllen, provozieren und im Gespräch sein.

Zu schnell zu weit nach oben. Das hat Blairs Charakter ruiniert. Statt sich die Komplexe von der Seele zu schreiben, hat ihn der rasche Ruhm süchtig gemacht. Nur ein einziges Gefühl bewahrt uns vor seinem Schicksal: wegen jedes eigenen Fehlers vor Scham im Boden versinken wollen.

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