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Verlockend wie Süßigkeiten ist das Surfen im Netz, wenn man eigentlich etwas Anderes zu tun hat. Eine Software will weiterhelfen.

© imago stock

Mehr Zeit ohne Internet: Finger weg!

Ein Leben ohne Internet scheint nicht vorstellbar - doch nimmt es ein wichtiges Gut: die Zeit. Deswegen nutzen manche Kreative die Software Freedom, die den Zugang zum Netz blockiert. Ein Selbstversuch.

Ich habe mir gerade Freiheit gekauft. Vorerst nur für 45 Minuten, Kostenpunkt sieben Euro. Anderswo auf der Welt heißt Freiheit keine Gitter, keine Ketten und das Recht, tun und lassen zu können, was man will. Dort, wo ich mich befinde, am Schreibtisch, am Rechner, in der westlichen Welt, bedeutet es: keine E-Mails, kein Wikipedia und die Unmöglichkeit, das zu tun, was man sonst so gern tut. Nämlich surfen. Die Software Freedom, die ich auf meinem Computer installiert habe, blockiert vorübergehend das Internet.

Das Programm schafft Zeit

Auf die Idee gebracht hat mich Zadie Smith. In ihrem letzten Roman „London NW“ dankte die englische Schriftstellerin dieser Software noch vor ihrer besten Freundin und ihrem Mann. Weil das Programm, so schrieb sie, Zeit geschaffen habe. Andere Autoren schlossen sich an. Jonathan Franzen, Miranda July, Nick Hornby. Alles bekannte Namen, und alle sagten, sie bräuchten diese Software, weil sie sich ansonsten im weltweiten Netz anstatt in ihren Geschichten verlieren würden.

Ich selbst bin im Grunde gar nicht so ein Internetmensch. Mein Mobiltelefon ist eher antik als smart, und neulich war ich die Einzige, die von einer Party nichts wusste, weil die Gastgeberin nur über Facebook eingeladen hatte und ich meinen Account dort wieder gelöscht habe. Und doch sind jetzt gerade einmal drei der insgesamt 45 Minuten um, und ich würde schon wieder so gern. Und zwar seitdem ich geschrieben habe, dass Freiheit anderswo bedeute, dass man nicht in Ketten liege. Stimmt das denn überhaupt? Gibt es das heutzutage noch? Menschen, die tatsächlich in Ketten liegen? Oder sollte ich das lieber anders formulieren? Und wie spricht man eigentlich Miranda July aus? Wie den Monat auf englisch, Dschulai? Heißt Frau July wirklich so, oder ist das ein Künstlername? Und wenn wir schon dabei sind: Wann darf man sich einen geben? Gab es da nicht einen Fußballspieler, der extra anfing zu malen, um das Anrecht auf einen Künstlernamen zu haben? Wer war das noch einmal? Das Internet wüsste die Antwort auf all diese Fragen, aber ich darf ja nicht hinein.

"Moby Dick'" wäre wahrscheinlich heute noch nicht fertig

Man sollte sich nichts vormachen: Auch früher war nicht alles besser. Ablenkungen hat es immer gegeben. Victor Hugo hat deshalb bevorzugt nackt gearbeitet und seinen Dienstboten angewiesen, die Anziehsachen zu verstecken. So wollte der französische Schriftsteller der Versuchung entgehen, sich draußen zu amüsieren anstatt drinnen über seinem Roman „Die Elenden“ zu sitzen. Und Herman Melville hat zwar in bekleidetem Zustand geschrieben, aber er hat sich von seiner Frau am Tisch festbinden lassen. Lebte er heute, wäre „Moby Dick“ wahrscheinlich trotzdem noch nicht fertig. Stattdessen hätte Melville unzählige Youtube-Filmchen über Wale gesehen. Denn das ist ja heutzutage die Tücke: Das Gerät, an dem wir arbeiten, ist das gleiche, mit dem wir uns am liebsten ablenken. Einer Untersuchung zufolge, die ich mir vorhin noch schnell aus dem Netz herausgeschrieben habe, wird fast jede fünfte Minute online verbracht. In einer anderen Studie wurden Menschen alle paar Stunden nach ihren dringendsten Bedürfnissen befragt. Der Drang, Medien zu nutzen, stand an vierter Stelle. Direkt nach dem Wunsch zu essen, zu schlafen und zu trinken. Das Bedürfnis nach Sex wurde viel seltener genannt. Andere Wissenschaftler fanden heraus, dass ein Drittel aller jungen Frauen heutzutage morgens nicht als erstes ins Bad, sondern auf ihre Facebook-Seite gehen. Ich würde jetzt gerne noch die Information liefern, wer genau diese Untersuchungen durchgeführt hat, aber ich darf ja nicht...Sie wissen schon. Selbst auferlegtes Internetverbot.

Jetzt sind erst 16 Minuten um

Dabei müsste ich jetzt – es sind 16 Minuten um – aber wirklich mal ins Netz. Ich muss doch sehen, ob ich E-Mails bekommen habe, vom „Freedom“-Entwickler zum Beispiel oder von verschiedenen deutschen Schriftstellern. Unter ihnen habe ich für diesen Artikel eine kleine Umfrage gestartet. Ob das Internet sie bei der Arbeit störe, wollte ich von ihnen wissen, und schon die erste Antwort zeigte mir, dass meine E-Mail mit dieser Frage genau das war: eine Störung. „Bin im Schreibexil, d.h. keine Ablenkung. Nächste Woche?“ schrieb Thomas Brussig zurück. Am Telefon erzählte er mir, dass er zum Schreiben an einen Ort fahre, wo es die Telekom trotz mehrmaliger Aufforderung nicht geschafft hatte, einen Anschluss zu legen. Anfangs habe er sich geärgert, inzwischen sei er höchst dankbar. Thomas von Steinäcker bat mich per Mail, ihn am nächsten Vormittag um elf Uhr anzurufen, da war gerade seine medienfreie morgendliche Schreibschicht zu Ende. Beide Autoren sagten mir, dass das Internet gut für die Recherche, aber schlecht für die Konzentration sei. Zum Beispiel, weil sie manchmal anfangen würden, von einem Wikipedia-Querverweis zum nächsten zu surfen. Und die „Tannöd“-Autorin Andrea-Maria Schenkel sagte, dass sie mitunter sogar krimifremden Kram wie Modeseiten ansehe.

Wer 100 Wörter schreibt, darf ein Katzenvideo ansehen

Trotzdem hat keiner der Schriftsteller, die ich gesprochen habe, jemals Freedom benutzt. Thomas von Steinäcker sagte, er sehe es als sein „Exerzitium“, dem Internet zu widerstehen, und Ingo Schulze schrieb mir, so viel Selbstbeherrschung müsse man schon haben. Nur Benedict Wells hat das Programm einmal aus Neugier heruntergeladen, es aber bald wieder entfernt. Er sagt, er schreibe lieber einfach nachts. Da werde es selbst im Internet still.

Deutsche sind eben ernsthafter und grundsätzlicher als die Amerikaner. In den USA werden solche Probleme ganz pragmatisch mit Technik gelöst. Inzwischen gibt es etliche Anti-Prokrastinations-Programme. Mit Cold Turkey, Self Control und Leech Block kann man einzelne Seiten sperren lassen. Welche das sein sollten, wo man besonders viel Zeit vertut, das kann man vorher mit dem Programm Rescue Time analysieren lassen. Und wenn man die süßen Tierfilme auf Youtube ganz arg vermisst, kann man sich auf writtenkitten.net jedes Mal, wenn man wieder 100 Wörter geschrieben hat, mit einem Katzenfoto belohnen lassen. Freedom ist da viel simpler. „Wie viele Minuten Freiheit möchtest du?“ wird beim Programmstart gefragt, 15 Minuten bis hin zu acht Stunden sind möglich. Vorzeitig ausschalten lässt sich das Programm nur, wenn man den Rechner herunter- und wieder hochfährt.

Meine 45 Minuten sind inzwischen vorbei. Ich checke meine E-Mails so erwartungsvoll wie nach einem Urlaub. Die einzige neue Nachricht ist von Facebook. Ob ich Basem Galxy, Ginger Snappz und Lucia Räubertochter kennen würde. Machen die Witze? Wer soll das sein? Die Antwort von Fred Stutzman, dem Freedom-Entwickler, kommt später. Er habe gearbeitet und dabei das Internet geblockt, erklärt er. Die Software Freedom habe er 2008 aus einer persönlichen Notlage heraus entwickelt. Das Café, in das Stutzman, damals noch Informatikstudent, immer ging, um ungestört und ohne Internetzugang an einer Uniarbeit zu schreiben, habe plötzlich Wireless Lan bekommen. Anstatt zu arbeiten surfte Stutzman von da an im Netz herum und begann Freedom zu programmieren. In gewisser Weise habe er sich mit dem Programm also von seiner eigentlichen Aufgabe abgelenkt, schreibt Stutzman. Doch war diese Zerstreuung äußerst produktiv: Freedom wurde von mehr als einer Million Menschen heruntergeladen, und Fred Stutzman ist ein wohlhabender Mann. Verena Friederike Hasel

SURFEN ALS SUCHT

Rund ein Prozent der 14- bis 64-Jährigen ist in Deutschland laut der Drogenbeauftragten der Bundesregierung internetabhängig. Das entspricht etwa 560 000 Menschen. Unter den Jugendlichen ist die Quote noch höher: Zwischen 14 und 24 Jahren sind 2,4 Prozent der User abhängig vom Netz. Dabei nutzen verhaltensauffällige Mädchen eher soziale Netzwerke und Jungen Onlinespiele. Merkmale einer Sucht sind, dass die Betroffenen fast nur noch in der virtuellen Welt leben und soziale Kontakte vernachlässigen. Wenn jene nicht online sind, können Entzugserscheinungen wie Unruhe und heftige Gereiztheit auftreten. Tsp

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