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Vorsicht, Kamera! Der WDR hat für die „Story im Ersten“ in einer Buchhandlung einen angeblichen Verkaufsstand mit „Mein-Kampf“-Exemplaren aufgebaut und die Reaktionen der Kunden gefilmt. Foto: WDR

© WDR

"Mein Kampf" im Buchhandel?: Countdown zum Tabubruch

Mit „Stern-TV“-Methoden macht „Die Story im Ersten“ auf die bevorstehende Veröffentlichung von Hitlers „Mein Kampf“ aufmerksam.

Stell dir vor, „Mein Kampf“ erscheint, und niemanden kümmert es: So könnte es kommen, zu Beginn des nächsten Jahres. Adolf Hitlers einstiger Bestseller ist mitnichten verboten, wie man meinen sollte. Das Buch wird nur deshalb nicht verlegt, weil die Nutzungsrechte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beim Freistaat Bayern liegen, und der hat wenig Interesse daran, ausgerechnet mit Nazi-Lektüre Geld zu verdienen. Laut Urhebergesetz laufen diese Rechte siebzig Jahre nach dem Tod des Verfassers aus. Deshalb kann theoretisch demnächst jeder Verlag die Hetzschrift herausbringen. Der Bayerische Landtag will dem zuvorkommen und hat das Münchener Institut für Zeitgeschichte beauftragt, eine kommentierte Version zu erstellen.

Der inszenierte Skandal

Ist das Stoff genug für eine „Story im Ersten“? Einerseits ja, immerhin ist das Buch ein übles Machwerk, und tatsächlich ist die Aufregung groß; zumindest bei jenen Kunden einer Buchhandlung, die in die Falle der Filmemacher tappten. Die haben einen Stapel ausgelegt und zugeschaut, wie die Leute um das Angebot herumschleichen. Einige, interessanterweise nur Frauen, haben ihrer Empörung dann auch Luft machen dürfen. Ob sich der WDR wirklich solcher „Stern TV“-Methoden bedienen sollte – künstlich einen Skandal schaffen und dann die Reaktionen filmen –, ist eine ganz andere Frage. Und womöglich haben sich einige Kunden ja auch ähnlich entspannt zur Veröffentlichung des Buches geäußert wie die Israelis, die Autor Klaus Martens in Tel Aviv befragt hat. Sie sind allerdings nur in einer knapp einstündigen Langfassung des Films zu sehen, die das „Dritte“ des WDR im Juni zeigen wird. Dass Martens sie für die Kurzfassung rausgeschnitten hat, ist nicht weiter überraschend, denn ihre Antworten lassen sich mit zwei Worten zusammenfassen: „Na und?“

Das ist für einen Journalisten selbstredend ein denkbar undankbares Fazit, immerhin geht es doch, wie der Titel verspricht, um einen veritablen Tabubruch. Zum Glück sagt Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, „Mein Kampf“ dürfe auf keinen Fall veröffentlicht werden. Dieser Ansicht hat sich dann auch Horst Seehofer angeschlossen und den Landtagsauftrag für das Institut kurzerhand wieder zurückgezogen. Das hatte zunächst einige Irritationen zur Folge, ist aber mittlerweile auch wieder erledigt.

Warum ist "Mein Kampf" nicht verboten?

Worum also geht’s dann überhaupt in dem Film? Besitz und Verbreitung des Buches zum Beispiel sind keineswegs strafbar. Die Deutschen mögen im Frühjahr 1945 eilends die Hitler-Fotos von der Wand genommen haben, aber irgendwo müssen die vielen Millionen verkauften und verschenkten Exemplare von „Mein Kampf“ ja geblieben sein; deshalb kann man sie in Antiquariaten problemlos erwerben. Martens trägt viele Details zusammen und beleuchtet alle möglichen Facetten des Themas; ehemalige Neonazis kommen ebenso zur Wort wie Menschen, die ein Vernichtungslager überlebt haben. Die eigentlich interessanteste Frage aber stellt er seltsamerweise nicht: Warum ist das Buch nicht verboten? Die Verfassungsfeindlichkeit des Inhalts dürfte ebenso außer Frage stehen wie der Tatbestand der Volksverhetzung.

Davon abgesehen ist der Film ein gutes Beispiel dafür, wie abgenutzt die Bildsprache solcher Dokumentationen mittlerweile ist. Wenn Mitarbeiter von Behörden oder anderen Einrichtungen zu Wort kommen, sieht man erst mal, wie sie gemessenen Schritts durch Flure laufen oder das Gebäude betreten. Die Einfallslosigkeit dieses Stilmittels wird nur noch durch die Interviews beim Autofahren übertroffen. Darauf verzichtet Martens dankenswerterweise, aber vermutlich auch nur, weil das hier schlicht nicht gepasst hätte. Immerhin hatte der Autor eine gute Idee für die akustische Ebene: Immer wieder ertönt eine Version von „Mein Kampf“, die der österreichische Schauspieler und Kabarettist Helmut Qualtinger vor vierzig Jahren eher geschrien als vorgelesen hat, was in Kombination mit den Aufnahmen einer Horde alles andere als arisch anmutender Neonazis ziemlich satirisch wirkt.

„Die Story im Ersten: ‚Mein Kampf‘ erscheint“, ARD, Montag, 22 Uhr 45

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