zum Hauptinhalt
Tierische Therapie: Die „Recovery Boys“ Ryan und Rush im Anti-Drogen-Bootcamp.

© Netflix

Netflix-Doku: Ganz normaler Drogenirrsinn in den USA

Eine süchtige Nation im Kollektivrausch: Mit „Recovery Boy“ zeigt Netflix, wie unterhaltsam knallharte Dokumentationen sind.

Der wichtigste Nährstoff zeitgenössischer Dokusoaps sind Tränen. Wann immer welche fließen, erzeugen sie jene Art von Anteilnahme beim Publikum, die dramaturgische Schwächen bei maximalem Pathos kleinhält und die Einschaltquote bei minimalem Kostenaufwand hoch. Falls junge Mütter/dicke Kinder/säumige Schuldner auf Sat1/RTL/Vox nach Drehbuch ihr Unglück beweinen, hat das in der Regel nur einen Zweck: werbewirksam das eigene Publikum zu verachten. Dass der Blick nach ganz unten selbst dann ohne Zynismus auskommt, wenn dabei Tränen fließen, zeigt dagegen der Streamingdienst Netflix.

„Ich liebe jeden Einzelnen von euch, der Leuten wie mir hilft, auf den die Gesellschaft herabblickt“, sagt ein zerzauster Mann, auf den die Gesellschaft von besonders weit oben herabblickt, und heult dabei so echt, dass es betroffener macht als alle Folgen „Jung, pleite, verzweifelt“ zusammen. Er heißt Ryan und ist einer von vier Drogenabhängigen, die ab heute in Spielfilmlänge das Hilfsprojekt eines amerikanischen Arztes beziehen. Benannt nach dem Psychothriller „Jacob’s Ladder“, in dem ein Vietnam-Veteran vor 28 Jahren mit den Folgen militärischer Drogenexperimente rang, kämpft Dr. Kevin Blenkenship auf ähnlich schwierigem Terrain: einer süchtigen Nation im Kollektivrausch.

Während die USA den Kalten Krieg 1990 gerade beendet hatten, befinden sie sich weiterhin im kochenden Krieg der Drogen. Allein Schmerzmittel, Opioide genannt, kosten 91 Amerikaner täglich das Leben, gut 33 000 im Jahr – mehr als der Schusswaffengebrauch, mehr sogar als der Straßenverkehr. Denn vom verschreibungsfähigen Oxycodon bis zum verbotenen Heroin konsumieren fünf Prozent der Weltbevölkerung fast 85 Prozent aller „Pain-Killer“. Und die meisten davon sind weiße Männer aus Bundesstaaten wie West Virginia, in denen die Gemeinschaft aufs Suchtproblem nur zwei Antworten kennt: Stigmatisierung und Knast. Bis Dr. Blenkenship kam.

Schafe hüten, Fortschritte machen, Heu wenden

Als sein Sohn süchtig wurde und nirgends Unterstützung fand, hat er sich sein eigenes Reha-Zentrum gebaut. Hier sollen die „Recovery Boys“ Ryan, Adam, Jeff und Rusk bei landwirtschaftlicher und therapeutischer Arbeit der Hölle ihrer Abhängigkeit entfliehen. Schafe hüten, Fortschritte machen, Heu wenden, Rückschritte machen, zwischendrin ein paar Tränen nebst Durchhalteparolen – „Recovery Boys“ hätte Reality-TV der konventionellen Art sein können. Dass es anders kommt, ist Elaine McMillion Sheldon zu verdanken. Wie im gefeierten Kurzfilm „Heroin(en)“ skizziert die Regisseurin erneut den ganz normalen Drogenirrsinn der USA, ohne ihn zu dramatisieren.

Wenn der nette Jeff „Dr. B.“ die Tatorte seiner Beschaffungskriminalität zeigt, wird die nüchterne Schilderung einer kaputten Kindheit nie von Geigen verstärkt; wenn der bärige Rusk allein im Wald sein Dasein reflektiert, kommentiert kein Schnitt die Selbsterkenntnis; und wenn der dürre Ryan vorm Kloschrank seines neuen Heims lobt, „gut, dass niemand sein Vicodin vergessen hat“, bedarf es keiner Off-Kommentare. Ohne Effekthascherei steht Elaine McMillion Sheldon immer leicht abseits und gerade deshalb mittendrin, wenn sich das betäubungsblinde Amerika kurz selber bespiegelt.

Kleiner Vorschlag, um deutsche Privatsender auf den Pfad der (Eigen-)Verantwortung zu geleiten: Verantwortliche sollten 24 Stunden „Recovery Boys“ in Dauerschleife sehen. Das wäre nicht nur lehrreich, sondern spannend und weniger zynisch als all der Mist, mit dem sie nachmittags ihr eigenes Publikum verachten.

„Recovery Boy“, Netflix, ab Freitag

Jan Freitag

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false