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Sind die neuen IP-Adressen wie Nummerschilder? Ist im Netz bald jeder ganz einfach zu identifizieren? Dieser binäre Code ist jedenfalls ziemlich bekannt. Das Nummernschild gehört zum Bundespräsidenten.

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Neue Adressen im Netz: Eine Plakette für jeden?

Das Internet ist überbevölkert – jedenfalls gehen ihm die Adressen aus. Deshalb werden jetzt neue, längere Anschriften eingeführt. Die Nummern ermöglichen es erstmals, jeden Nutzer schon an dieser Zahl eindeutig zu erkennen. Datenschützer schlagen Alarm.

Die Zukunft wird einfach großartig. Es wird keine leeren Kühlschränke mehr geben, weil die Geräte den Einkaufszettel selbst schreiben und bei Bedarf gleich an den Supermarkt senden, der den Nachschub nach Hause liefert. Die Waschmaschine wird zum Energiesparwunder, weil sie die schmutzigen Klamotten wäscht, wenn Strom und Wasser gerade besonders günstig sind. Stau wird in die Liste der bedrohten Wörter aufgenommen, weil intelligente Verkehrsdienste unsere Autos gleichmäßig auf den Straßen verteilen. Und das Beste ist: Die Zukunft beginnt schon heute. Denn vielfach sind diese Annehmlichkeiten theoretisch bereits möglich. Kühlschränke, Waschmaschinen, Stromnetze und Autos müssten nur ins Internet. Hier hapert es derzeit: Jedes der Geräte bräuchte eine eigene IP-Adresse, eine Art Nummernschild, mit der es klar im Netz zu identifizieren ist – und davon gibt es einfach zu wenige.

Als das noch heute gültige Internetprotokoll in der Version vier (IPv4) vor 30 Jahren zum Standard wurde, war es nicht darauf ausgelegt, dass das Internet jemals so groß werden würde, wie es ist. Heute gibt es zu wenige IP-Adressen, so dass die Internetanbieter jedem Nutzer nur eine temporäre Kennung zuweisen, die bei jeder Einwahl wechselt. Mit dem künftigen Standard IPv6 gibt es statt 4,3 Milliarden IP-Adressen weltweit fast 340 Sextillionen. Damit könnte man allen Atomen unserer Erde eine eigene IP-Adresse zuweisen. Wechselnde IP-Adressen sind also nicht mehr notwendig, jeder Golfball, jedes Hundehalsband, das Daten sendet, kann eindeutig zurückverfolgt werden. Die Zukunft verspricht also nicht nur mehr Komfort, sondern – wie Datenschützer fürchten – die Möglichkeit zur totalen Überwachung.

Bezahlen wir also den technologischen Fortschritt mit einem Weniger an Privatsphäre? „Die Einführung von IPv6 berührt gar nicht so sehr die Frage nach Anonymität im Netz“, sagt Christoph Meinel, Direktor des Hasso-Plattner-Instituts (HPI) in Potsdam. „Der Internetanbieter weiß immer, wann Sie sich ins Netz einwählen, ganz gleich, ob die IP-Adresse dynamisch vergeben wird wie bislang mit IPv4 oder statisch, wie dies mit IPv6 zumindest möglich ist.“ Meinel ist auch Vorsitzender des deutschen IPv6-Rates, der bei Politik, Wirtschaft und Verbrauchern für die rasche Einführung des neuen Standards wirbt und die Umstellung möglichst reibungslos koordinieren will. Ganz so entspannt wie er sehen Datenschützer die anstehenden Änderungen nicht. Die neuen Adressen hätten durchaus das Potenzial, zu einer Art Autokennzeichen für jeden Internetnutzer zu werden, sagt der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar – und zwar unabhängig davon, wie viele Geräte der Einzelne verwendet, ob nur sein Computer oder eben auch sein Kühlschrank am Netz ist. Umso wichtiger sei es daher, dass mit der erforderlichen Sorgfalt vorgegangen werde. Im Klartext heißt das, die normale Nutzung des Internets sollte nach wie vor über dynamisch vergebene Adressen funktionieren. Bei neuen Diensten wie etwa der Fernsehnutzung über das Internet oder Internettelefonie wären statische Adressen eher verkraftbar, weil es technisch einfacher ist und Nutzer über diese Kanäle deutlich weniger Informationen preisgeben als beim Surfen im Netz.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Manche Unternehmen sperren sich, Nutzern beim anonymen Surfen zu helfen

Befürworter des neuen Standards verweisen zur Einordnung der Gefahr gerne auf die vielfältigen Arten, mit denen Unternehmen und Webseiten es ohnehin schaffen, Nutzer eindeutig zu identifizieren, auch wenn sie jedes Mal mit einer anderen IP-Adresse surfen. Über „Cookies“, die Webseiten auf dem Rechner des Nutzers hinterlassen, sind sie wiedererkennbar und geben preis, wie und auf welche Weise sie sich auf der jeweiligen Seite bewegen. Letztlich geht es darum, bei der Einführung von IPv6 das Vertrauen der Internetnutzer in die gewohnte Anonymität im Netz zu erhalten. Darin sind sich Meinel und Schaar einig. Sie haben Leitlinien formuliert, wie das geschehen kann. Einer der Kernpunkte ist die Wahlfreiheit der Nutzer. Dort, wo es möglich ist, sollten IP-Adressen nach dem Zufallsprinzip zugewiesen werden. Dort, wo statische Adressen notwendig sind, sollten Nutzer die Gelegenheit bekommen, zumindest Teile der IP-Adresse per Knopfdruck jederzeit neu zu vergeben.

Sogenannte Privacy Extensions, die Teil des IPv6-Standards sind, verhindern beispielsweise, dass ein Mobiltelefon eindeutig vom Betreiber der angesteuerten Webseite oder App identifiziert werden kann. Doch viele Geräte werden – bewusst oder unbewusst – noch gar nicht mit diesem Werkzeug ausgeliefert. Millionen Nutzer älterer iPhones beispielsweise schauen in die Röhre: Apple bietet die erst in den neueren Versionen des Betriebssystems iOS an. Spätestens an diesem Punkt wird die Einführung des neuen Standards zum Politikum. „Hier kann der Gesetzgeber wahlweise auch durch gezielte Förderung oder Regulation Druck auf die Endgeräte- und Betriebssystemhersteller ausüben“, fordert Markus Beckedahl von der Digitalen Gesellschaft, die sich für Bürgerrechte und Verbraucherschutz im Netz einsetzt. Den Staat würde HPI-Chef Meinel aber am liebsten außen vor lassen. Natürlich könne der Gesetzgeber die Einführung von IPv6 begleiten. Doch: „Die Frage ist, ob das zu diesem Zeitpunkt wirklich notwendig ist“, sagt er. Risiken hält er ohnehin für unvermeidlich. „Wir stehen erst am Anfang der digitalen Gesellschaft. Unfälle – etwa in Form von Datenskandalen – sind deshalb mit oder ohne Gesetze nicht zu verhindern.“

Für Netzaktivisten ist diese Haltung nicht akzeptabel. „Dass große Internetanbieter wie die Telekom oder Vodafone IPv6-Adressen dynamisch vergeben wollen, ist dem Wunsch der Nutzer geschuldet“, argumentiert Katharina Nocun von der niedersächsischen Piratenpartei. „Es ist ein deutliches Signal an die Politik: Anonymität im Netz ist gewollt.“ Die Piraten halten den neuen Standard zwar grundsätzlich für sinnvoll. Digitale Anonymität hat für sie jedoch Verfassungsrang. „Unsere Vorstellung wäre, dass die anonyme Nutzung des Internets zu den Grundrechten hinzugefügt wird“, sagt die Datenschutzexpertin.

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