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Wegen Übergriffen auf Journalisten bei Corona-Demonstrationen wurde Deutschland hinsichtlich der Lage der Pressefreiheit zurückgestuft.

© Stefan Puchner/dpa

Update

Rangliste von Reporter ohne Grenzen: Lage der Pressefreiheit in Deutschland herabgestuft

Wegen der Übergriffe auf Journalisten auf Corona-Demos wird die Lage der Pressefreiheit in Deutschland nicht mehr als gut bewertet.

Deutschland gehört nicht mehr zu den Ländern, in denen die Lage der Pressefreiheit als gut bewertet wird. In der am Dienstag veröffentlichten Rangliste der Journalistenorganisation Reporter ohne Grenzen (ROG) „mussten wir aufgrund der vielen Übergriffe auf Corona-Demonstrationen die Lage der Pressefreiheit in Deutschland von gut auf nur noch zufriedenstellend herabstufen“, sagte Michael Rediske, der Vorstandssprecher von Reporter ohne Grenzen und fügte an: „ein deutliches Alarmsignal.“

„Unabhängiger Journalismus ist das einzig wirksame Mittel gegen die Desinformations-Pandemie, die seit einem Jahr die Corona-Pandemie begleitet. Gleichzeitig ist es im vergangenen Jahr für viele Journalistinnen und Journalisten schwieriger denn je geworden, ohne Angst vor Gewalt oder Repressionen zu arbeiten. Wenn die Welt nun hoffentlich bald zur Normalität zurückkehrt, muss auch der Respekt für die unabdingbare Rolle des Journalismus für eine funktionierende Gesellschaft zurückkehren“, forderte ROG-Sprecher Rediske.

Die Organisation beklagt zudem die mitunter unzureichende Rückendeckung durch die Polizei gegen Angriffe auf Demonstrationen von Gegnern der Corona-Maßnahmen.

Man müsse kritisch sagen, dass die Polizei in Deutschland „nicht immer die Rechte von Journalisten angemessen schützt“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr am Dienstag dem Radiosender Bayern 2. „Das ist etwas, das bedenklich ist. Deshalb fordern wir auch, dass in der polizeilichen Aus- und Weiterbildung das gestärkt wird, dass Polizistinnen und Polizisten besser lernen: Was sind die Rechte von Journalisten im Rahmen von Berichterstattung?“

Länder prüfen neue Verhaltensgrundsätze für Polizei und Presse

Unter dem Eindruck von wiederkehrenden Angriffen auf Journalisten bei Demonstrationen prüfen die Bundesländer derzeit eine Überarbeitung der Verhaltensgrundsätze zwischen Polizei und Presse. Eine länderübergreifende Arbeitsgruppe hat inzwischen eine Beschlussfassung erarbeitet, sagte Arbeitsgruppenleiter Thilo Cablitz der Deutschen Presse-Agentur. Sollten die Länder dem Vorschlag zustimmen, soll er mit dem Deutschen Presserat abgestimmt werden.

Frank Überall, der Bundesvorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbandes (DJV) erinnert daran, dass es auch in den ersten Monaten dieses Jahres immer wieder zu Gewalttaten gegen Berichterstatter gekommen ist. „Die Politik muss die Rangliste als Weckruf begreifen. Wenn das wichtige Grundrecht der Presse- und Meinungsfreiheit immer weiter eingeschränkt wird, haben wir in Deutschland ein massives Problem.“

Bedenklich sei, so Überall, auch die Tendenz des Bundesgesetzgebers, das Grundrecht der Pressefreiheit der Verbrechensbekämpfung unterzuordnen. Aktuelles Beispiel ist die Modernisierung des Bundespolizeigesetzes, das auf der Agenda der parlamentarischen Gremien steht. Es räumt der Bundespolizei die Möglichkeit ein, durch Trojaner die verschlüsselte Kommunikation zu knacken. Wichtige Berufsgruppen wie die Journalisten seien nicht explizit ausgeklammert. „Würde das Gesetz so verabschiedet, wäre das ein weiterer Hieb gegen die Pressefreiheit in Deutschland.“

Deutschland ist in der aktuellen Rangliste um zwei Plätze zurückgestuft worden. Die besten Bewertungen erhielten die nordeuropäischen Länder Norwegen, Finnland, Schweden und Dänemark. Mit Costa Rica (Rang 5), Jamaika (Rang 7) und Neuseeland (Rang 8) befinden sich nur drei Länder außerhalb von Europa in der Liste der Länder, deren Situation der Pressefreiheit als gut bewertet wird. Hinter Deutschland liegen in Europa unter anderem Österreich (17), Spanien (29), Großbritannien (33) und Frankreich (34).
Ein Jahr nach Beginn der Corona-Pandemie stehen Journalistinnen und Journalisten in vielen Teilen der Welt so stark unter Druck wie selten zuvor, konstatiert die Organisation. Informationssperren und staatliche Desinformation, willkürliche Festnahmen und Gewalt gegen Medienschaffende schränkten die Pressefreiheit auf allen Kontinenten ein.

Auf der Welle der Pandemie

Die Pandemie wird von repressiven Staaten dazu missbraucht, um freie Berichterstattung weiter einzuschränken. In Ungarn wurde die Verbreitung von „Falschmeldungen“ über die Pandemie ebenso unter Strafe gestellt wie in Malaysia. Ägypten verbot die Veröffentlichung aller nicht-offiziellen Infektionszahlen, das Assad-Regime in Syrien verhängte eine Nachrichtensperre für alle Medien außer der staatlichen Nachrichtenagentur.

Tatsächliche Desinformation ging in der Pandemie von zahlreichen Regierungen sowie Staats- und Regierungschefs aus. Der damalige Präsident der USA, Donald Trump, propagierte ebenso wirkungslose oder sogar gefährliche Mittel gegen Covid-19 wie seine Amtskollegen Jair Bolsonaro in Brasilien oder Nicolás Maduro in Venezuela.

[Die ausführliche Pressemeldung von Reporter ohne Grenzen über die Lage der Pressefreiheit sowie die komplette Rangliste der 180 Länder kann hier nachgelesen werden.]

Doch auch jenseits der Pandemie fanden autoritäre Regime Anlässe, um unabhängige Berichterstattung zu unterdrücken. In Vietnam kam es im Vorfeld des Kongresses der Kommunistischen Partei zu einer Verhaftungswelle. In Belarus wurden im Laufe des Jahres mehr als 400 Medienschaffende festgenommen, die meisten von ihnen vorübergehend. Sie hatten über die Massenproteste nach der umstrittenen Präsidentenwahl berichtet.

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In verschiedenen Teilen der Welt hetzten Staats- und Regierungschefs gegen die Institution Presse wie auch gegen einzelne Journalistinnen und Journalisten und schufen so ein Klima der Aggressivität und des Misstrauens.

In den USA schlug die aggressive Atmosphäre in nie dagewesenem Ausmaß in Gewalt gegen Journalistinnen und Journalisten um, vor allem im Umfeld der Black-Lives-Matter-Proteste. Auch in anderen Ländern kam es im Zusammenhang mit Demonstrationen zu Gewalt gegen Journalistinnen und Journalisten, so etwa in Deutschland, Frankreich, Haiti, Chile und Kirgistan.

Während eines Einsatzes in der Oranienstraße, wo am 1. Mai 2020 eine Demo stattfand, kam es zu einem Übergriff eines Polizisten auf eine Journalistin.
Während eines Einsatzes in der Oranienstraße, wo am 1. Mai 2020 eine Demo stattfand, kam es zu einem Übergriff eines Polizisten auf eine Journalistin.

© Michael Kappeler/dpa

Aber auch gefestigte Demokratien taten sich in der Krise schwer damit, die freie Arbeit von Journalistinnen und Journalisten sicherzustellen. In Deutschland wurden Dutzende Journalistinnen und Journalisten auf Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen angegriffen.

Geschlagen, getreten, bespuckt und bedrängt

2020 zählte Reporter ohne Grenzen mindestens 65 gewalttätige Angriffe gegen Journalistinnen und Journalisten im Land. Journalistinnen und Journalisten wurden geschlagen, getreten und zu Boden gestoßen, sie wurden bespuckt und bedrängt, beleidigt, bedroht und an der Arbeit gehindert. Mehr als drei Viertel aller körperlichen Angriffe ereigneten sich auf oder am Rande von Demonstrationen.

Angriffe gab es nicht nur bei Corona-Protesten, sondern auch auf Demos wie gegen das Verbot der linken Internetplattform linksunten.indymedia.org und auf Demos zum 1. Mai.

Gegenüber 2019 bedeutet das eine Verfünffachung der Angriffe, wobei ROG davon ausgeht, dass die die Dunkelziffer 2020 höher ist als in den Vorjahren.

In 73 von 180 Ländern wird unabhängiger Journalismus weitgehend oder vollständig blockiert (rot oder schwarz auf der Weltkarte), in 59 weiteren ernsthaft behindert (orange auf der Weltkarte). Demnach ist die Pressefreiheit in fast drei Viertel der Länder der Welt zumindest bedeutend eingeschränkt.

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