zum Hauptinhalt
Online? Offline! Die Massenproteste gegen Stuttgart 21 sind im Internet mit organisiert worden. Die Motivation erfolgte aber auf anderen Wegen.Foto: Uwe Ansbach/dpa

© picture alliance / dpa

Online? Offline!: Zurück auf die Straße

Protest ist anderswo: Das politische Potenzial des Webs wird überschätzt, sagen Wissenschaftler.

Von Anna Sauerbrey

„Oben bleiben“ hat tausende Anhänger. Die Facebook-Gruppe, in der sich Stuttgart-21-Gegner austauschen, wird von über 98 000 Personen unterstützt. Sie posten Demonstrationstermine und Medienberichte, regeln, wer wann wo Handzettel verteilt oder rufen sich virtuell Mut zu: „Unser Widerstand geht weiter. Den Wahnsinn blockieren!“

Zehntausende Unterzeichner von Online-Petitionen, riesige digitale Protestgruppen. Das Jahr 2010 mit seinen Massendemos gegen Castortransporte, Atomkraft und den Stuttgarter Bahnhofsneubau scheint auf den ersten Blick die Optimisten unter den Gesellschaftswissenschaftlern zu bestätigen: Forscher wie die Harvard-Politologin Pippa Norris, die schon zu Anfang des Jahrtausends prognostizierte, das Netz werde die politische Mobilisierung verändern und stärken. Mehr Web, weniger Politikverdrossene.

Bei genauerem Hinsehen wird die Euphorie allerdings gedämpft. „Der Hype um die Wirkung des Web 2.0 und um die sozialen Netzwerke scheint mir stark übertrieben“, sagt der Politikwissenschaftler Dieter Rucht, der am Wissenschaftszentrum Berlin forscht. „Das Internet gewinnt an Bedeutung als Mittel der Organisation von Protesten. Als Mittel zur Mobilisierung und Überzeugung taugt es nicht.“

Der Protestforscher sagt auch, dass das Forschungsfeld noch in Bewegung ist. Doch die Belege für seine These mehren sich. Ende 2010 haben Rucht und sein Team Demonstrationsteilnehmer in Stuttgart gefragt, welche Informationswege sie dazu bewegt haben, sich an den Demonstrationen zu beteiligen. Nur 7,5 Prozent gaben an, soziale Netzwerke hätten eine Rolle gespielt. Die meisten verwiesen auf persönliche Gespräche, gefolgt von den klassischen Massenmedien. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam Rucht überraschend auch bei einer Befragung unter den Teilnehmern des Europäischen Sozialforums, einem internationalen Treffen von Globalisierungsgegnern, an dem deutlich jüngere und räumlich deutlich verstreutere Aktivisten teilnahmen.

Martin Emmer, Politikwissenschaftler in Düsseldorf und Ilmenau, bestätigt die Einschätzung Ruchts. „Die Vermutung, dass das Internet Menschen dazu bringt, sich zu engagieren, die sich bislang nicht für Politik interessiert haben, hat sich nicht bewahrheitet.“ Emmer hat acht Jahre lang beobachtet, ob und wenn ja, wie das Internet das Informationsverhalten und Engagement der Befragten verändert hat. Das Ergebnis: Es hat sich wenig getan. Zwar haben sich Onliner intensiver politisch informiert. Aktiv geworden sind die meisten deshalb aber nicht. Tatsächlich ist auch 2010 eher ein Ausreißerjahr in der Entwicklung der Protestwilligkeit der Deutschen. Obwohl eine immer größere Mehrheit einen Netzzugang hat, haben Protestbewegungen seit der Jahrtausendwende stetig abgenommen.

Als Grund für die verpuffte Hoffnung in die politische Magie des Webs nennt Emmer zunächst grundsätzliche Ursachen: „Die primäre Quelle für politische Motivation ist weiterhin, selbst betroffen zu sein.“ Aber auch praktische Probleme kommen hinzu. „Die Vielzahl an Informationen und Anforderungen überfordert die meisten Nutzer“, sagt Rucht. Wer sich einmal an einer Unterschriftenaktion beteiligt hat, muss damit rechnen, immer wieder angemailt zu werden. „Dann setzen Antireflexe ein“, meint Rucht. Auch verliert die einzelne Unterschrift an Bedeutung, nun, da sie über Netzwerkgruppen und Mailinglisten immer leichter zu haben ist. „Das schraubt das Anspruchsniveau insgesamt nach oben“, sagt der Protestforscher. Ein weiteres Problem ist, dass virtuelle Protestwelt und reale politische Prozesse sich bislang eigentlich nur in einem Punkt berühren: in der Online-Petition, die beim deutschen Bundestag seit 2005 möglich ist. Eine direkte Verlinkung zwischen dem Like-Button einer Facebook-Gruppe und einem Baustopp in Stuttgart gibt es nicht.

Zudem lässt allgemein das Interesse am „Mitmachen“ im Netz nach, wie die Online-Studie von ARD und ZDF zeigt. Zwar gewinnen Communities weiter Nutzer hinzu. Doch die meisten wollen sich informieren oder die Chat- und Mailfunktionen nutzen. Nur eine Minderheit schreibt selbst Beiträge oder Kommentare, sagt die Studie. Ähnliches gilt für Wikipedia und Twitter. Letzteres gehört zu den am meisten überschätzten Instrumenten der Polit-Kommunikation. Von Politikern wird Twitter zwar rege genutzt. Darüber hinaus aber gerade mal von einem Prozent der Onliner, Tendenz sinkend.

Eine Prognose bleibt angesichts des ständigen Wandels in der Online-Welt schwierig. Emmer glaubt, dass die Entwicklung längst nicht abgeschlossen ist. „Mit dem Älterwerden der neuen Nutzergeneration, der heute 20- bis 30-Jährigen, entwickelt sich sicher noch einmal eine ganz andere Dynamik.“

Zur Startseite