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Open-Data-Bewegung: App ins Leben

Feinstaub, Lohn, Pollenflug. Der Staat ist reich an Daten, die nicht öffentlich zugänglich sind. Dabei könnte man damit so viele schöne und praktische Dinge machen, finden Netzaktivisten und wollen die Daten befreien - zur Not auch ohne zu fragen.

Von
  • Sabine Beikler
  • Anna Sauerbrey
  • Jan Garcia

Es ist etwa vier Jahre her, da setzten sich zwei Brüder aus Amsterdam in den Kopf, die niederländische Regierung zu berauben. Edial und Floris Dekker bestellten Pizza, kauften Bier und luden ein paar Dutzend Leute in die Büros der Firma eines Freundes. Die digitale Bohème ließ sich nicht bitten, sie kam zahlreich: Designer, Programmierer, Blogger, ein paar Dutzend Leute gingen 16 Stunden lang in Klausur. Sie ließen Roboterprogramme das Internet nach Daten der Regierung durchforsten, bauten Anwendungen für Smartphones und interaktive Grafiken, mit denen sich die Daten darstellen ließen. Am Ende war die Regierung um ein paar exklusive Daten ärmer und die Allgemeinheit konnte nun unter anderem in einer „Pollen-App“ nachvollziehen, wo gerade welche Allergieauslöser durch die Luft schwirren. „Hack de Overheid“, zu Deutsch „Hack die Regierung“ war geboren.

„Hack de Overheid“ gehört zu den Vorreitern einer Bewegung, die zurzeit in vielen europäischen Ländern Fuß fasst, auch in Deutschland. Mit dem Schlagwort „Open Data“ fordern sie nicht weniger als einen Mentalitätswandel in der öffentlichen Verwaltung. Mithilfe des Internets möchten sie in den Amtsstuben von Bund, Ländern und Kommunen eine neue Kultur der Offenheit und Transparenz etablieren. Tag für Tag fallen umfangreiche Datenmengen an: Umwelt- und Klimadaten, Haushaltsdaten, Arbeitslosenzahlen, Bebauungspläne oder Plenarprotokolle. Initiativen wie die Open Knowledge Foundation, das Open Data Network oder das Government-2.0-Netzwerk setzen sich dafür ein, diese Daten frei zugänglich zu machen, frei von technischen, rechtlichen oder finanziellen Hürden und maschinenlesbar, damit Entwickler sie direkt in ihre Anwendungen einbauen und mit anderen Daten verknüpfen können. Sie erhoffen sich eine Stärkung bürgerlicher Teilhabe, eine bessere Kontrolle über staatliches Handeln und eine Effizienzsteigerung in der öffentlichen Verwaltung.

"Frag nicht um Erlaubnis, bitte später um Entschuldigung"

Langwierige politische Prozesse sind allerdings nicht die Sache von Edial Dekker. Das Motto von „Hack de Overheid“ lautet: „Frag nicht um Erlaubnis, bitte später um Entschuldigung.“ In einem Café in Kreuzberg 36 hält der 27-Jährige auf Knopfdruck eine flammende Rede über „Open Data“, während er mit der linken Hand unruhig sein iPhone zwischen Apfelsaftschorle und Heizung hin und her schiebt. Vor zwei Jahren sind er und sein Bruder nach Berlin gezogen, weil hier die Start-up-Branche blüht. Ihr Unternehmen, „Gidsy“, eine Onlineplattform, auf der man ungewöhnliche Freizeitangebote in Berlin und New York buchen kann, ist letztes Jahr gestartet. Doch auch „Hack de Overheid“ will Edial Dekker weiter betreiben: „Es gibt so viele nützliche Daten da draußen, man kann damit absolut magische Sachen machen, wenn man nur die richtigen Leute zusammenbringt“, sagt er. Bei einem der Treffen hackte „Hack de Overheid“ das kostenpflichtige niederländische Unternehmensregister, kopierte sämtliche Daten und stellte sie auf einer Webseite unter einer ähnlichen Adresse wieder ins Netz.

In den USA sind mehr Daten öffentlich - und es gibt mehr Apps

In der Regel aber müssen sich Entwickler, die öffentliche Daten verwenden wollen, die Informationen mühsam aus unterschiedlichsten Quellen zusammensuchen. Damit hat Stefan Wehrmeyer, angehender Softwareentwickler und einer der Aktivisten des Open Data Network in Deutschland, seine Erfahrungen gemacht. Seine Anwendung „Mapnificent“ zeigt auf einer interaktiven Karte, welche Gegenden man mit den öffentlichen Verkehrsmitteln innerhalb eines vorgegebenen Zeitraums erreichen kann. Schon für 50 Städte weltweit steht der Dienst zur Verfügung. „Die meisten in den USA, weil die Daten da verfügbar sind“, sagt Wehrmeyer. „In Deutschland hat leider noch keine einzige Stadt diese Datensätze veröffentlicht. Das ist eigentlich ein Skandal, in den USA klappt das schließlich wunderbar. Dort gibt es ein schönes Ökosystem von Anwendungen für den Nahverkehr.“ Wehrmeyer würde sich wünschen, „dass sich die Verkehrsverbände einen Ruck geben, und ihre Daten nicht als ihr Eigentum betrachten, oder als eine Dienstleistung, diese Daten zur Verfügung zu stellen. Sie sollten sehen, dass sie eigentlich Busse und Bahnen betreiben und diese Daten dem Bürger gehören sollten.“ Wehrmeyer hat nun eine Grafik online gestellt, die mit Annäherungswerten zeigt, wie seine Idee für Berlin aussehen könnte, wenn er die entsprechenden Daten zur Verfügung hätte.

Die EU sieht ein riesiges wirtschaftliches Potential

Doch die öffentlichen Verwaltungen beginnen, das Potenzial von „Open Data“ zu erkennen. Zwar brach über „Hack de Overheid“ zunächst eine Welle der Kritik aus, nachdem das Netzwerk das niederländische Unternehmensregister öffentlich gemacht hatte. Doch bald, so berichtet Edial Dekker, gab es sehr konstruktive Gespräche mit Verwaltungsvertretern. „Die haben erkannt, dass sie sich als progressiv vermarkten können, wenn sie mit uns zusammenarbeiten“, meint Edial Dekker, der selbst freiberuflich Open-Data-Projekte für die niederländische Regierung betreute. Auch als Wirtschaftsfaktor dürften die Daten interessant sein. Eine von der EU-Kommission in Auftrag gegebene Studie beziffert das Potenzial auf bis zu 40 Milliarden Euro. Unternehmen können die Behördendaten verwerten, indem sie diese zum Beispiel in Anwendungen fürs Smartphone oder kommerzielle Wirtschaftsdatenbanken integrieren, meint Neelie Kroes, EU-Kommissarin für die digitale Agenda, und kündigte eine Open-Data-Offensive an.

Auch Deutschland reagiert. Im August 2010 hat das Bundeskabinett „Open Data“ als Teil des Leitbilds einer „offenen Regierung“ beschlossen. Kürzlich hat das Bundesinnenministerium eine Studie dazu in Auftrag gegeben, um rechtliche und technische Fragen klären zu lassen. Unter welchen Lizenzen könnten die Daten erhältlich sein? Wären sie vollständig kostenfrei? 2013 will die Bundesregierung ein zentrales Portal starten, auf dem Verwaltungsdaten verfügbar sein sollen – ein Prototyp soll bis dahin getestet werden. Ein Wettbewerb für Entwickler von Software für Smartphones und andere mobile Computer ist Anfang November gestartet.

Vorbild für den Bund sind Bremen und Berlin. Die Berliner Verwaltung versammelt auf www.daten.berlin.de bereits mehr als 100 Angebote, teilweise Daten, teilweise Möglichkeiten, im Netz mit der Verwaltung Kontakt aufzunehmen. Am häufigsten, so die Senatsveraltung, sahen sich die Benutzer die Kategorien Arbeitsmarkt, Geografie, Demografie, Bildung, Umwelt und Klima an. In den Datensätzen stehen Tagespflegestellen, GPS-Tracks für Radrouten und Wirtschaftsdaten. Der Chef der Senatskanzlei, Björn Böhning, sagt, eine „App für Berlin“ solle entwickelt werden. Ein Wettbewerb startete bereits im September 2010. Unter den 72 Ideen waren ein Berlin-Reiseführer für Gehörlose und die „Wheelmap“, eine interaktive Karte, mit deren Hilfe Menschen im Rollstuhl barrierefreie Orte suchen, finden und selbst anlegen können. Mit der App „Grüner Daumen“ können standort-, pflanzen-, zeit- und wetterabhängig Informationen zur Pflege des Gartens abgerufen werden.

Edial Dekker träumt vor allem von einer verbesserten App für den Berliner Nahverkehr. Jetzt, wo es Winter ist, lässt er das Fahrrad öfter einmal stehen. Und die App der BVG? Dekker seufzt. „Die sollen da mal andere Leute dranlassen.“

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