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Zeitungszeugen

© Repro: Tsp

Presse: Zeitungen als Zeitzeugen

Eine neue Edition druckt Blätter der NS-Zeit nach - und gibt Einblicke in die deutsche Geschichte, die es in dieser Form bisher weder am Kiosk zu kaufen noch im Geschichtsunterricht an der Schule zu sehen gab.

Schon das Poster in der Mitte zeigt, dass die „Zeitungszeugen“ ein ungewöhnliches Konzept verfolgen. Abgebildet ist auf dem von Karl Geiss gestalteten Plakat ein ans Hakenkreuz gefesselter Arbeiter, darunter der Aufruf, die Sozialdemokraten zu wählen. Es ist ein Nachdruck aus der sozialdemokratischen Zeitung „Vorwärts“, die das Plakat 1933 kurz vor der Machtergreifung Hitlers zeigte.

Nicht nur mit diesem Poster überraschen die jetzt erstmals erschienenen „Zeitungszeugen“. In ihrer ganzen Gestaltung bietet die Edition einen Einblick in die deutsche Geschichte, den es in dieser Form bisher weder am Kiosk zu kaufen noch im Geschichtsunterricht an der Schule zu sehen gab. Aufgeteilt ist das Blatt in zwei Teile: Im Innenteil finden sich zwei bis drei nachgedruckte deutschsprachige Zeitungen aus der Zeit von 1933 bis 1945 – unverändert und unzensiert. In der ersten Ausgabe beispielsweise das NS-Blatt „Der Angriff“, die damals noch relativ unabhängige „Deutsche Allgemeine Zeitung“ und der kommunistischen „Kämpfer“. Im farbigen Mantel und auf zwei Innenseiten wird der historische Hintergrund der Ereignisse, über die die beigelegten Zeitungen berichten, erläutert. Wissenschaftlich, aber gut verständlich und spannend aufbereitet.

Hinter den „Zeitungszeugen“, die jeweils donnerstags zum Preis von 3,90 Euro erscheinen, steht der englische Verleger Robert McGee. Er hat die Edition bereits in acht europäischen Ländern herausgebenen, beispielsweise in Spanien über den dortigen Bürgerkrieg von 1936 bis 1939. „Wir wollen mit der Edition einen neuen, objektiven Blick auf die Ereignisse von damals bieten. Denn einerseits waren Zeitungen eines der wichtigsten Propagandainstrumente, gleichzeitig spiegeln sie das soziale Leben wider“, sagt er. „Zeitungszeugen“-Chefredakteurin Sandra Paweronschitz ergänzt mit Blick auf die deutsche Edition: „Wir zeigen, was man über die Vorgänge im Dritten Reich wissen konnte, wenn man es wissen wollte.“

50 000 bis 100 000 Leser soll das Blatt, das zunächst ein Jahr lang erscheinen soll, wöchentlich erreichen. Ein Beirat, zu dem renommierte Wissenschaftler wie Wolfgang Benz, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, und Barbara Distel, langjährige Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau, gehören, beraten die Redaktion bei der Auswahl der Zeitungen, liefern Analysen und Kommentare.

Die erste Ausgabe beschäftigt sich mit Hitlers Machtergreifung 1933. Wie aufgeladen die Stimmung auch in der Presse war, zeigen allein die vielen Ausrufezeichen. „Massenstreik! Massendemonstrationen! Verhindert die Papen-Hitler-Diktatur!“, titelt der kommunistische „Kämpfer“. Joseph Goebbels schreibt im von ihm herausgegebenen „Angriff“ unter der Überschrift „Reinen Tisch machen!“: „Der Nationalsozialismus hat seine große Charakterprobe siegreich bestanden, und geklärt und geläutert, stärker und durchschlagkräftiger denn je, verharrt er heute auf seinem Recht und seinem Anspruch, den er auf Grundlage seines machtpolitischen Bestandes erheben darf und auch erheben muss.“

Solche Sätze im Original zu lesen lässt den Leser heute noch erschauern und gleichzeitig verwundern, wie sich die Propaganda einfügt in die normale Berichterstattung über den Presseball mit seinen Gästen Marlene Dietrich und Gustaf Gründgens, Nachrichten über Bobunfälle und Kritiken von Theateraufführungen im Berliner Komödienhaus. Ob man eine solche nationalsozialistische Propaganda überhaupt unzensiert drucken darf, bejaht Sandra Paweronschitz eindeutig. „Gerade in der heutigen Zeit, in der es noch immer Antisemitismus gibt und aktuell über ein NPD-Verbot diskutiert wird, ist ein so direkter Zugang zur Geschichte besonders wichtig.“ 

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