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Medien: Raus aus der Pubertät Freitagabend wurde das Ende von Viva beschlossen.

Was für ein Musikfernsehen braucht das Land?

Alles hatte so glamourös angefangen, als ein gewisser John Lack am 1. August 1981 die Worte „Ladies and Gentlemen: Rock and Roll“ in die Kamera sprach. Das war natürlich schon damals eine Lüge, weil es dem so genannten Musikfernsehen immer mehr um Pop ging als um Rock and Roll, um bunte, oberflächliche Bilder statt um die Bodenständigkeit ehrlicher Gitarrenarbeiter, um schöne Frauen statt um schwitzende Männer. Aber zum einen war MTV ja gerade erst angetreten, um eben diese Differenz zu etablieren; und zum anderen war es dann auch wieder irgendwie Pop, sich die Slogans beim Klassenfeind zu klauen. Wie hätte das auch geklungen: „Ladies and Gentlemen: Pop“.

Musik und Fernsehen aber hatten sich gefunden, und es dauerte nicht lange, bis es so schien, als hätten die Buchstaben MTV schon immer eine natürliche Einheit dargestellt, in Stein gemeißelt, wie das Logo des Senders. Die Vorstellung, dass es jemals wieder Musik ohne die dazugehörigen Bilder geben würde, wäre bis vor kurzem noch so bizarr gewesen wie die Wiedereinführung des Stummfilms. Das Konzept war einfach zu genial: Einen Sender zu gründen, dessen Programm vollständig von der Industrie finanziert wird, eine Dauerwerbesendung Avant La Lettre. Nur eines war noch unwahrscheinlicher als ein Scheitern dieser Vernunftehe: Dass einmal verzweifelte Kulturkritiker die Krise dieses Modells bedauern würden.

Heute sind es vor allem die 30- bis 40-Jährigen, die besorgt über den Wandel der Programmschemas sind, jene Menschen also, die selbst in dem popkulturellen Universum aufgewachsen sind, das MTV und später Viva prägten, und die sich nun wundern, warum die so genannten Kids lieber sehen, wie Autos und Handys aufgemotzt werden, als halbnackten Frauen beim Tanzen zuzuschauen. Den Namen „Musikfernsehen“ haben beide Sender heute tatsächlich nicht mehr verdient – und welche Rolle dabei auch immer die Krise der Musikbranche oder die Veränderung der Sehgewohnheiten spielen, der Grund für den Frust der ehemaligen Stammzuschauer liegt vor allem in einem strukturellen Problem: Die Zuschauer sind erwachsen geworden, die Musiksender nicht. Statt mit ihrem Publikum zu wachsen, wollen die Sender lieber pubertär bleiben. Für die alternden Zuschauer ist es ein schwacher Trost, dass selbst die Verantwortlichen die Rückentwicklung zu den eigenen Wurzeln bedauern: „Viva wird wieder der kunterbunte Plastiksender für dreizehnjährige Mädchen vom Land“, beklagte unlängst etwa Viva-Betriebsrat Georg Hermens. Und so schlimm das klingt: Das wäre immerhin ein Profil.

Wie sie nun aussehen soll, die Zukunft des Musikfernsehens, das weiß man auch nach der Viva-Hauptversammlung am Freitag nicht genauer. Der alte und neue Monopolist Viacom hat nun wohl endgültig die gestalterische Verantwortung für den teuer eingekauften deutschen Konkurrenten, aber immer noch kein klares Konzept über die inhaltliche Ausrichtung der vier Kanäle. Und auch Vivas halbherzige Programmreform, die am Montag in Kraft tritt, ist ein Zeichen großer Ratlosigkeit. Sarah Kuttner wird ihre „noch frecheren Sprüche“ in Zukunft in nur noch zwei Shows pro Woche packen müssen, und die neue Nachmittags-Sendung „17“ wird unfreiwillig fatalistisch schon mal als „einmaliges Erlebnis“ angekündigt. Ein weiterer Schritt in Richtung: ja was eigentlich?

Schon möglich, dass die Teenager von heute vier Kanäle gleichzeitig sehen können – kein anderer Sender hat seine Zuschauer schließlich so sehr zum Zappen erzogen wie MTV. Umso besser wäre es dann aber, wenn sich der eine oder andere Kanal entscheiden würde, was er sein will. Ein Musiksender? Ein Jugendsender? RTL II? Jamba TV? Und wenn die willkürliche Mischung aus Talk, Reality-TV, Dating- Shows und Charts tatsächlich das ist, was die Teenager heute sehen wollen: Muss man das dann tatsächlich noch MTV nennen? Hieße es nicht besser Kika 2 oder Nickelodeon Plus?

Für die enttäuschten MTV-Zuschauer der ersten Stunde aber, die nun auch nicht unbedingt die Zielgruppe sind, vor der Werbekunden angewidert davonlaufen, wäre es schön, wenn wenigstens einer der vier Kanäle ungefähr das leisten könnte, was etwa Radio Eins in seinem Slogan verspricht: Musikfernsehen für Erwachsene. Und zwar, ohne das Ganze, wie einst VH1, mit Musikfernsehen für alte Leute zu verwechseln und dabei vollbärtiges Lehnstuhl-Flair zu verbreiten. Das Bedauern um den Mangel an Musik auf MTViva nämlich drückt nicht die Sehnsucht nach einem Oldie-Sender aus, sondern den Wunsch, ernst genommen zu werden. Musikfernsehen hat nichts mit Entertainment zu tun; wer es wirklich liebt, versteht keinen Spaß.

Musikfernsehen war immer mehr als Musik und mehr als Fernsehen: Es war die Kirche des späten 20. Jahrhunderts, die das Vorbild für den eigenen Lebensentwurf lieferte. Oder zumindest einen Gegenentwurf. Und deshalb gab es viele dumme Jungs und etwas weniger etwas schlauere Mädchen, die jeden Nachmittag in diese Kirche gingen, um sich von den Predigern des Pop die Welt erklären zu lassen. Wer heute in diese Kirche geht, trifft nur noch andere dumme Jungs und altkluge Mädchen, die einander aus ihrem traurigen Leben erzählen.

Musikfernsehen war einmal relevant. Es war die Droge, die vielen Menschen half, morgens dem Tag ins Gesicht zu schauen und nachts wieder einzuschlafen. Von blauen Nilpferden und besoffenen Elchen will niemand träumen. Und ob man nun 14 ist oder 40: Methadon ist keine Lösung. Wir wollen unser MTV.

Harald Staun

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