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Berlin-WG: Bewerber mit Tattoos oder Solariumsbräune bevorzugt.

© RTL 2

Realtainment: Proll, Porno, Papa Joe

RTL 2 eröffnet eine Berliner Fernseh-WG. Und alle, die die Hauptstadt unten herum ausmachen, sind vertreten.

Wer in diese Wohngemeinschaft aufgenommen werden will, muss lauter kreischen können als ein Flugzeug, er oder sie muss mindestens zwei Jahre seines Lebens im Fitnessstudio oder im Solarium verbracht haben, die Hautoberfläche ist im Idealfall zu fünfundzwanzig Prozent mit Tätowierungen bedeckt, Piercings sind hoch willkommen, eine leichte Pornoanmutung schadet nicht und Studienabschlüsse sind ausdrücklich nicht erwünscht. Der Wortschatz der WG-Kandidaten in der am Montag bei RTL 2 beginnenden Sendung „Berlin – Tag & Nacht“ darf 200 Wörter nicht übersteigen. Allerdings sollten Floskeln wie „Verpiss dich!“, „Ich flipp gleich aus“, „Ist die heiß!“ oder „Ganz ehrlich!“ flüssig und kraftvoll ausgesprochen werden können. WG-Bewerber, die zuvor Erfahrungen im betreuten Wohnen („Big Brother“), in Talentschuppen („Germany’s next Topmodel“) oder Stranddiscos („X-Diaries“) gemacht haben, werden bevorzugt eingestellt.

RTL 2 hat es sich nicht nehmen lassen, einen eigenen Neologen mit der Wortschöpfung des Begriffs „Realtainment“ zu beauftragen. „Realtainment“ meint, dass niemand mehr zwischen Wahn und Wirklichkeit unterscheiden kann. Zwischen Simulation und Realität gibt es keinen Unterschied mehr. Die RTL-2-Philosophen, die in Anschluss an die französischen Denker Baudrillard und Virilio an der Abschaffung der Wirklichkeit arbeiten, erfreuen den Zuschauer mit zunächst 160 Folgen aus dem Leben der „coolsten WG der Hauptstadt“.

WG-Häuptling Papa Joe ist muskelbepackt, tätowiert, schraubt gerne an Autos herum und lässt sich in seiner Kfz-Werkstatt ab und an widerwillig auf den Austausch von Körperflüssigkeiten ein (Sex!). Dann ist da noch die Nymphomanin Alina, die Zimtzicke Ceylan, der Barmixer-Beau Carlos, der Partyhengst Ole, der smarte Möchtegernkünstler Marcel, das Pop-Prinzesschen Sofi, die Heulsuse Meike (will Tattoostudio eröffnen, kann aber nicht zeichnen). Und schließlich gibt es noch Fabrizio, einen kindsköpfigen Schwaben-Italiener mit Testosteron- Überschuss.

Die Laiendarsteller spielen sich zum Teil selbst. Das bedeutet Realtainment. Sagt RTL 2. Bei der Abschaffung der Wirklichkeit habe man glänzende Fortschritte gemacht. Ja, bei den Dreharbeiten soll es am Set zu dramatischen Szenen gekommen sein. Die Darsteller konnten sich und ihre Rollen nicht mehr auseinanderhalten, Drehbücher verschwanden, ein Regisseur wurde verprügelt, als er um die Wiederholung einer Szene bat. „Wir sind hier doch nicht im Fernsehen!“ rief Papa Joe. Mehrere Laiendarsteller sollen sich inzwischen in Realtainment-Entziehungskuren befinden; ob sie jemals in ihr altes Leben zurückkehren können, ist ungewiss.

RTL 2 dementierte energisch, dass die Serie zum sittlichen Zerfall bei Jugendlichen beitragen könne. Vielmehr würden Werte wie Freundschaft, Alkohol, Analphabetismus, Fitness und Partykondition hochgehalten. Die WG-Familie zeige, dass unsere Gesellschaft um ihren Zusammenhalt kämpfen müsse. Mit allen Mitteln. Tatsächlich fällt auf, dass die WG-Bewohner längst nicht so oft die Sau raus lassen können, wie sie wollen. Immer kommt was dazwischen, immer trübt etwas die gute Laune. Die Zwänge des Gelderwerbs oder die WG-Regeln (kreischen, saufen, Fertigpizza essen, One-Night- Stands bewältigen). Politik hat übrigens in der WG nichts zu suchen. Die WG-Bewerber Klaus Wowereit („Ich bin sexy!“) und Renate Künast („Ich auch!“) wurden abgelehnt. Unter dem Vorsitz von Papa Joe wurde beiden die sittliche Reife abgesprochen sowie fehlende Sprachkenntnisse und Tätowierungen moniert. Sofern die Serie Erfolg hat, will RTL 2 sich der simulationistischen Internationale anschließen und an der Abschaffung der Gegenwart arbeiten. Torsten Körner

„Berlin – Tag & Nacht“, RTL 2, ab Montag um 19 Uhr

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