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Medien: Sehenden Auges in den Niedergang

„Der Fall Deutschland“: Stefan Aust und Claus Richter schreiben im ZDF Wirtschaftsgeschichte

„Die Wirtschaft ist das Schicksal“, hat Walter Rathenau 1921 formuliert. Und nun, 2005, liefert eine Koproduktion von ZDF und Spiegel-TV den Film zum Sinnspruch. Zwei der besten Filmemacher des deutschen Fernsehens, Stefan Aust und Claus Richter, haben in drei Folgen den Aufstieg Nachkriegsdeutschlands zum Wirtschaftswunderland und dann den zunächst allmählich, schließlich rapiden Absturz nachgezeichnet. Über viele Holzschnitte dieser Dokumentation kann man streiten. Sehr schnell, vielleicht zu schnell und zu pauschal sind die Sündenböcke des Niedergangs ausgemacht: der Föderalismus, der Sozialstaat, die Gewerkschaften, die Wiedervereinigung. Und viele Bilder und Bildfolgen, gerade im ersten (und schwächsten) Teil zum Wiederaufstieg Deutschlands nach 1945, hangeln sich von Klischee zu Klischee (Konsumwerbung, Erhards Zigarre, „Teutonengrill“, fröhliche Gastarbeiter). Aber wahrscheinlich ist das unvermeidlich. Denn wenn es stimmt, dass die Wirtschaft „Schicksal“ ist, also eine mehr oder weniger unsichtbare Kraft, die unser Leben entscheidend bestimmt, so muss man eben an jedem Zipfel des Sichtbaren zupfen, um das dahinter Liegende, das Unsichtbare hervorzuholen.

Je länger dies die beiden Filmautoren tun, umso spannender wird es – aber auch: beklemmender. Denn immer wieder ist es die gleiche Schrittfolge, die man beim Weg in den Niedergang, vielleicht sogar zum Abgrund, bemerkt. Nicht nur, dass Deutschland seit Jahrzehnten weit über seine Verhältnisse lebt. Bedrückender noch ist die Systematik, mit der die politisch Verantwortlichen – von Mächtigen mag man nach diesem Film nicht mehr reden – alle Warnsignale, alle gesicherten Erkenntnisse (etwa die demografische Entwicklung) stets ausgeblendet haben. Kaum tröstlich ist es da, dass sich immerhin einige Zeitzeugen jetzt zu ihren Fehlern bekennen, der frühere Finanzminister Theo Waigel etwa oder der ehemalige Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff und Altkanzler Helmut Schmidt. Helmut Kohl hingegen, der aus der Vereinigungszeit vom früheren DDR-Staatsbänker Edgar Most mit dem töricht-stolzen Satz in Erinnerung gebracht wird, er treffe als Kanzler „politische Entscheidungen“, deren wirtschaftlichen Folgen sie, die Ökonomen, „schon lösen“ werden, stand selbstverständlich für den Film nicht als Gesprächspartner zur Verfügung. Wie auch Gerhard Schröder nicht, der die von den Filmautoren immerhin als kleine erste Schritte in die richtige Reformrichtung gewürdigten Schlussmaßnahmen der Regierung Kohl postwendend ausmerzte.

Das Fehlen dieser Prominenten tut der Dokumentation in ihrer Dichte allerdings keinen Abbruch, nahezu die gesamte Elite aus Politik und Wirtschaft der Gegenwart hat sich einvernehmen lassen. Und diese sind sich im Großen und Ganzen erstaunlich einig, über das, was jetzt zu tun wäre: Karl Schillers Tassen wieder in den Schrank zu räumen, den Gürtel enger zu schnallen, die Realität nicht länger zu verweigern. Oder, wie es am Ende Waigel eindrucksvoll benennt: Mit dem vollen Risiko, „gnadenlos abgewählt“ zu werden, zu regieren. Womit übrigens Rathenau dann doch schon wieder ein gutes Stück widerlegt wäre: Denn dass die Wirtschaft in unserem Fall Schicksal wurde, hängt ganz wesentlich damit zusammen, dass die Politik es ist.

Kleine Nachbemerkung: Der Film rückt mit angebrachter Schärfe der Politik zu Leibe, weil die das Kommende nicht sehen will. Die nächste Dokumentation von Stefan Aust könnte sich dann vielleicht mal seiner eigenen Widerborstigkeit widmen, die heute noch lustvoll gegen Windräder kämpft, wo das nahende Ende der fossilen und atomaren Energiewirtschaft bereits entschieden ist.

„Der Fall Deutschland“; ZDF, erster Teil heute, 22 Uhr 45; zweiter Teil Donnerstag, 22 Uhr 15; dritter Teil Sonntag, 21 Uhr 45

Peter Siebenmorgen

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