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Ich mach’s mir!  Otis (Asa Butterfield) hat alles, damit er eine geglückte Selbstbefriedigung vortäuschen kann.

© Sam Taylor/Netflix

Sex will gelernt sein: Wissen macht Stöhn

Die Netflix-Serie „Sex Education“ zeigt, was Jugendliche dringend brauchen

Mathematik, Englisch, Chemie, worin werden die 16-Jährigen an der High School irgendwo im Vereinigten Königreich eigentlich nicht unterrichtet? Richtig, Sex fehlt. Dabei wird ordentlich gevögelt, mit und ohne Beziehung. Aber Sex ist mehr als Mechanik, rein und raus, „der kleine Tod“, wie der Franzmann es so poetisch sagt, hat seine eigene Magie.

Das weiß auch Otis Milburn (Asa Butterfield), ein sozial unbeholfener Teenager. Aber wie das eben so ist: Seine Mutter (gespielt von „Akte X“-Star Gillian Anderson) ist Sextherapeutin. Otis ist umgeben von Ratgebern, Videos, Gesprächen über Sex. Und trifft er nicht morgens im Haus auf die Männer, die mit seiner Mutter ebendiesen hatten?

Sex, Sex, überall Sex, aber Otis hatte noch keinen. An seiner Schule ist er mit seinem besten Freund Eric (Ncuti Gatwa) in der Außenseiterposition. Kein Sex, nicht cool, schlimmer geht es für einen Teenager kaum. Und dann diese Mutter, die sich ständig in sein Leben einmischt!

Dann jedoch kommt er auf die Idee – oder wird er vom Bad Girl Maeve (Emma Mackey) darauf gebracht? –, dass er mit seinem immensen theoretischen Wissen über Sex bei seinen Mitschülern Ansehen und Bedeutung gewinnen könnte. Also gründet er mit Maeve eine inoffizielle „Sexualtherapieklinik“. Für die Netflix-Serie „Sex Education“ ist damit ein großes Spielfeld eröffnet. Wer hat nicht mit diesem Thema zu kämpfen, wer ist sich in diesem Alter seiner Neigungen, seiner Gefühle und seiner Liebe sicher? Siehe Adam (Connor Swindells), der Sohn des verbohrten Schulleiters Groff (Alistair Petrie), ist ein Grobian, der Jüngere tyrannisiert, mit seinem Penis nicht klarkommt und hinter Natalie (Cerys Watkins) herläuft, die ihn nur „peinlich“ nennt. Sex ist anstrengend, schwierig, nur vom Hörensagen schön. Aber alle wollen ihn.

Verklemmt ist "Sex Education" nicht

Laurie Nunn hat die ersten acht Folgen für das Netflix Original geschrieben. „Sex Education“ will sich zwischen Comedy und Drama bewegen – und genau das passiert. Im sexuellen Sektor, noch dazu in der Teenagerphase, gibt es unendlich viele peinliche, ungewollte, unbeherrschbare Szenen und Momente. Da lässt Autorin Nunn wenig liegen, wie auch die Produktion mit Nacktszenen wenig Probleme hat. Verklemmt mögen die Protagonisten sein, „Sex Education“ ist es nicht.

Laurie Nunn schaut tief in die Teenager-Seele und was sie dort sieht, das bietet hohes Identifikationspotenzial unter dem Coming-of-Age-Label. Die Figuren von Otis oder Maeve sind Prototypen – und sie sind mehr als das. Besonders Asa Butterfield formuliert seinen Otis über die oft gesehene Figurengrenze hinweg, er gibt ihm einen individuellen Charakter. Was nach Loser aussieht, muss nicht Loser bleiben. Was auch für Emma Mackey gilt, die die coole Maeve mit Ambivalenz umflort. Wer ist mit 16 schon, was er zu sein glaubt und vorgibt?

Gillian Anderson hat ihre Sexualtherapeutin Jean fest im Griff. Frisur, Kleidung, Patienten, Sexpartner, da wird nicht gezweifelt und nicht verzweifelt. Aber Nähe zu Menschen will sich nicht einstellen, Jean sieht im Mann den „Gebrauchsmenschen“.

Regisseur Ben Taylor hält Story und Protagonisten auf Linie. Die Comedy scheint ihm ein bisschen näher als die Dramedy zu sein, in den komischen Szenen lässt er es zuweilen an Drastik nicht fehlen. Hier wird ausgewalzt, während die feineren, stillen Momente mehr Aufmerksamkeit vertragen könnten.

Dieses Defizit wiegt nicht schwer. „Sex Education“ hat die Qualität eines Porträts des jungen Erwachsenendaseins, das Sex, Romantik, Freundschaft in eine Balance bringen will und bringen muss.

Otis braucht, klar, selber eine Therapie und seine Mutter außer Sex, klar, auch Liebe. Joachim Huber

"Sex Education“, erste Staffel, acht Folgen, ab Freitag bei Netflix

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