zum Hauptinhalt
Elisabeth Moss in "Shining Girls"

© Apple TV+

„Shining Girls“ mit Elisabeth Moss: Zeitreise am Abgrund

Horrortrip ins traumatisierte Leben einer missbrauchten Frau: Die Serie „Shining Girls“ schickt Elisabeth Moss an den Rand der Verzweiflung.

Elisabeth Moss müsste sich eigentlich woanders aufhalten als im Rampenlicht wegweisender Streamingformate. Tief unter der Oberfläche öffentlicher Wahrnehmung nämlich, wohin die Personalabteilungen des Massenentertainments Schauspielerinnen normalerweise abschieben, die wie Elisabeth Moss weder schlank noch schön, geschweige denn glamourös und obendrein fast 40 sind. Der Ort, an dem Apple TV+ seine Hauptdarstellerin nun einsetzt, wirkt daher absolut passend: das Archiv einer Chicagoer Zeitung im staubig analogen Jahr 1992.

Dort arbeitet Kirby Mazrachi besser bezahlten Reportern drei, vier Etagen darüber das Ergänzungsmaterial welt- oder wenigstens stadtbewegender Recherchen zu. Dunkel und traurig ist es im Keller erhellender Berichterstattung. Dunkel und traurig wie jene Aura, mit der Elisabeth Moss von „Mad Men“ über „Top of the Lake“ bis „Handmaid’s Tale“ mehr Preise sammelt als glamouröse Kolleginnen Homestorys. („Shining Girls“, Apple TV+, ab 29.4.)

Man könnte also meinen, Moss wäre zu Beginn der achtteiligen Bestsellerverfilmung „Shining Girls“ dort, wo sie aus Publikums- und Produzentensicht auch hingehört.

In ihrem Element. Im Periodensystem seelisch verkarsteter, strukturell diskriminierter, dezent renitenter Frauen unter der Fuchtel gewalttätiger Alphatiere. Hier: ein Serienkiller (Jamie Bell), den uns Regisseurin Michelle MacLaren nach Sekunden als Täter vorstellt. Kirbys schlimmster Feind ist allerdings gar nicht dieser sonderbar alterslose Mann, der ihr bereits 1964 zu Hause auflauerte und die Erwachsene 18 Jahre später so verstümmelt, dass sie Anfang der Neunziger wie ein Geist durchs Gefängnis einer verwundeten Seele schleicht. Ihre schlimmeren Feinde sind Zeit und Raum.

Beides hat Showrunnerin Silka Louisa so virtuos ineinander verknotet, dass ihre Titelfigur der Wirklichkeit unablässig misstraut, misstrauen muss. Alltägliche Gewissheiten wie ihr Haustier, die Wohnung, der Schreibtisch können sich schließlich jederzeit als Trugbilder erweisen.

Andauernd hält sie fremde Erinnerungen für eigene oder umgekehrt. Mal lebt sie mit ihrer Mutter (Amy Brenneman) zusammen, mal mit Ehemann Marcus (Chris Chalk), der drei Szenen zuvor ein kollegialer Flirt ist und drei Szenen weiter ein Fremder.

Dann zerkratzt die Regie das gefilmte Trauma

Um den Realitätsbezug nicht ganz zu verlieren, führt die Eigenbrötlerin aus dem Zeitungsarchiv eine Art Illusionstagebuch, in dem sie Schein und Sein ihrer amorphen Existenz unablässig aktualisiert. An dieser Stelle würde jede Erklärung zu viele jener Rätsel lösen, die Lauren Beukes Roman 2013 zum Mystery-Thriller der Extraklasse verwoben hat. Eines aber steht auch in der Apple-Adaption früh fest: Kirbys buchstäblich verrücktes Dasein hat ausnahmslos mit jenem Killer zu tun, dessen jüngstes Opfer identische Narben ihrer eigenen Misshandlung aufweist.

Weil die Polizei im Dunkeln tappt, begibt sich die einzig Überlebende mit dem Reporter Dan Velazquez (Wagner Moura) auf die Spur eines Serienkillers, an dem fast alles unerklärlich bleibt. Dieses Psychogramm einer mutmaßlich schizophrenen Frau am Abgrund ihrer eigenen Ängste ist von der ersten Minute an auf nervöse Art fesselnd.

Dann zerkratzt die Regie das gefilmte Trauma zwischen „Schweigen der Lämmer“ und „Dark“ auch noch mit einer Musik, die der Irrfahrt ins Unterbewusstsein aller Beteiligten weitere Neurosen unterjubelt. Der zurückhaltend kostümierte Horrortrip durch mehrerer Jahrzehnte Angst und Verarbeitung wäre nur halb so gelungen, würde die Zeitreisende nicht von Elisabeth Moss verkörpert. Wie sie dem jahrtausendealten Femizid handgreiflicher Männergesellschaften aller Epochen ein halbes Hollywood-Leben nach ihrem Durchbruch als Präsidententochter der NBC-Serie „The West Wing“ ein trotzigverzweifeltes Gesicht verleiht, wirkt in jeder Sekunde ergreifend. Sehenswert.

„Er ist jeder, er ist niemand, er ist alles zu jeder Zeit“, presst Kirby mit einer Mischung aus Trauer, Wut, Verachtung hervor, als sie ihren Peiniger von früher identifizieren soll, aber nicht kann, weil ihr nur die Stimme im Kopf blieb, „als er mich Hure genannt hat“. Das historische Leid einer Gruppe mit fünfzigprozentigem Menschheitsanteil, verdichtet in der bedeutungsvollen Brillanz einer Schauspielerin abseits klassischer Schönheitsideale – allein das lohnt annähernd acht Stunden Psychothriller, die sonst schwerverdaulich wären.

Jan Freitag

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false