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Unfall? Unglück? Mordversuch?  Der Familienvater Leo Janek (Florent Raimond, links) ist schwer verletzt und nicht ansprechbar. Woher die Verletzungen stammen, ist für die Kommissare Peter Faber (Jörg Hartmann, zweiter von links), Nora Dalay (Aylin Tezel, zweite von rechts) und Martina Bönisch (Anna Schudt) zunächst ein Rätsel.

© WDR/Thomas Kost

"Tatort" Dortmund: Fallschirme im Bauch

Der heutige „Tatort“ aus Dortmund spielt im Base-Jumper-Milieu. Wo der Kick nahe und der Tod nicht fern ist. Und sich auch die Kommissare im freien Fall befinden.

Dieser Krimi will vor allem eines für seine Zuschauer sein: eine Herausforderung. Wer „Schwerelos“, es ist der sechste „Tatort“ aus Dortmund, einschaltet, der wird auf eine verstörende Reise geschickt, und wieder ist es eine Reise in die Nacht, in die Verzagung, in die Verzweiflung von Menschen. Der Krimi ist fast eine Absage ans „Tatort“-Format, so wenig sind der Fall und seine Aufklärung die treibenden Faktoren.

Leo Janek (Florent Raimond) liegt auf der Intensivstation. Unbekannte haben den Schwerstverletzten vor der Klinik abgeladen und sind dann verschwunden. Janek wird nicht überleben. Ein Unfall, ein Unglück, ein Mord? Die Ermittler um Hauptkommissar Peter Faber (Jörg Hartmann) suchen in Janeks persönlichem Umfeld nach Spuren. Schnell zeigt sich, dass der junge Familienvater mit seinem Leben haderte, mit seinem Job in der Bank, mit seiner Frau Klara (Inez Björg David), mit seinem Sohn Martin (Mats Hugo) und mit seinem Schwager Frank Hövel (Constantin von Jascheroff), dem er einen Kredit verschafft hatte. Janek sah sich in der Sackgasse, also ging er in die Luft. Er gehörte zu einer Clique von Base-Jumpern, bei denen Sprünge mit dem Fallschirm von hohen Gebäuden ultimative Herausforderung, ultimativer Kick sind. Endlich schwerelos im freien Fall. Der Tod wird in Kauf genommen, der Base-Jumper ist dann „auf dem Zenith seiner Freiheit verglüht“, wie ein Süchtiger bekennt.

Der Sprung in die Tiefe als kontrollierter Kontrollverlust

Autor Ben Braeunlich schreibt im Presseheft: „Es gibt mehr und mehr Menschen, die den an sie gestellten Erwartungen im beruflichen Alltagskampf, als Eltern oder Partner, nicht mehr gewachsen sind – und sich der Verantwortung verweigern.“ Der Sprung in die Tiefe sei ein kontrollierter Kontrollverlust und ein gelebter Eskapismus, der perfekte Ausdruck für einen übersteigerten Freiheitsdrang einer überforderten Generation auf der Suche nach Identität.

Das ist eine Ansage, ein schwarz gerändertes Passepartout, in das sich die Personnage nun einfügen muss. Der „Tatort“ aus Dortmund wäre nun nicht das Unikat, das er in der Krimireihe ist, wenn er das beschriebene Gesellschaftsexempel nur an herbeigedachten und herbeigeschriebenen Einmal-Figuren statuieren würde. „Schwerelos“ spiegelt den Janekschen Typus mit voller Wucht in die Fahndertruppe hinein.

Peter Faber, Hauptkommissar und Chefmelancholiker, hat ja Frau und Kind verloren. Er kümmert sich jetzt um Martin, den achtjährigen Sohn des Opfers. Mehr als das: Wenn er jetzt den Jungen sieht, wie dieser gezwungen ist, beim Sterben des Vaters dabei zu sein, dann sieht sich Faber selbst. Er entdeckt seinen Beschützerinstinkt, sein Helfen-Können, und dass sich dann noch die Witwe an seine Schulter lehnt – „Ich weiß, wie sich das anfühlt“ –, gibt dem Mann im Parka Haltepunkte im Leben, von denen der Zuschauer jedenfalls hoffen darf, dass Fabers innere Verwahrlosung zum Stillstand kommt. Borderline entwickelt Empathie.

Autor Braeunlich profitiert davon, dass die Kommissare in diesem „Tatort“, stärker als anderswo, horizontal erzählt werden. Da gibt es immer wieder Anknüpfungspunkte und Ableitungen, die einer früher angelegten, inneren Figurenlogik folgen. Charaktere sind enstanden, Charaktere verändern sich. Bruchstellen kollidieren mit Entwicklungslinien. Die verschiedenen Fahnder sind in ihren Dramen auf Epik angelegt.

Kommissare im freien Fall

Kommissarin Bönsch (Anna Schudt) sitzt schon im schwarzen Tunnel. Das Privatleben ist längst zerfasert, der Sohn ist verschwunden. Polizeioberkommissarin Nora Dalay (Aylin Tezel) ist – Minimum – traumatisiert. Die Abtreibung ihres Kindes und die Trennung vom Kollegen Daniel Kossik (Stefan Konarske) haben ihr im Wortsinn den Boden unter den Füßen weggezogen. Sie testet jetzt ihre Grenzen, fühlt sich vom großen Risiko beim Base-Jump angesogen, sucht – gegen alle Polizeiregeln – das Abenteuer mit einem Tatverdächtigen. Nahezu alle Kommissare des „Tatorts: Schwerelos“ befinden sich im freien Fall, gleichwertig werden sie erzählt.

Der Film verknüpft die Episodencharaktere mit den persönlichen Strängen der Ermittler. Spiegelung, Dopplung, Verdreifachung. Das ist anstrengend, hat etwas Angestrengtes, Manisches. Andererseits entstehen so Druckverhältnisse, denen der Zuschauer nicht entgehen kann. „Schwerelos“ heißt auch: ganz oder gar nicht.

Regisseur Züli Aldag legt weniger Wert auf outrierte Figuren-Inszenierung denn auf optische Bindemittel. Kamerafahrten, Vogelperspektiven, die Kamera stürzt und fliegt, die Bildgeschwindigkeiten variieren, die Dynamik ist bedrängend, gerade in den aufregenden Locations einer Dortmunder Hochofenanlage und der Eifeler Urftalsperre. Der „Tatort“ überzeugt auf der Bildebene am stärksten.

Soll keine Zurücksetzung des Ensembles bedeuten. Was mit Jörg Hartmann beginnt, das endet mit Aylin Tezel nicht: eindringliches Agieren, nachtseitige Menschen, in sich vergraben, mit Zuwachs an Erkenntnis. Der Weg zur Freiheit führt nach innen und dann wieder heraus. „The Walking Dead“, das spielt anderswo.

„Tatort: Schwerelos“, ARD, Sonntag, 20 Uhr 15

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