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Unbeherrscht. Johanna Stern (Lisa Bitter) und Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) ermitteln im Umkreis einer Schule.

© SWR/Christian Koch

„Tatort“: Kein Systemsprenger

Wütende Kinder und überforderte Erwachsene wecken große Erwartungen, ergeben aber einen zumeist formelhaften „Tatort“ aus Ludwigshafen.

„Ach, was muss man oft von bösen Kindern hören oder lesen!“ Die Geschichten von Kindern, die die Erwachsenen überfordern, haben in Deutschland einige Tradition. Nicht von ungefähr dürfte die „Tatort“-Episode „Marlon“ deshalb an einer fiktiven Wilhelm-Busch-Grundschule spielen, wobei sich seit den Max-und-Moritz-Zeiten einiges getan hat.

Mittlerweile gibt es an den Schulen Sozialpädagogen, wie den Anton Leu (Ludwig Trepte), der auch das Fernsehpublikum mit dem pädagogisch Nötigsten versorgt: „Kinder sind nicht das Problem. Sie haben eins“, sagt Leu im Gespräch mit den Ludwigshafener Kommissarinnen Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) und Johanna Stern (Lisa Bitter). Die Polizei ist in der Schule, weil der Viertklässler Marlon (Lucas Herzog) tot am Fuß einer Treppe gefunden wurde. Ein Unfall gilt als ausgeschlossen, weil die Verletzungen angeblich auf einen Stoß schließen lassen.

In der Eingangsszene stürmt Marlon in die Schule. „Du darfst doch gar nicht aufs Schulfest“, ruft ein Mädchen. Die Nachricht von Marlons Anwesenheit löst verstörende Reaktionen aus – als hätte sich ein Schwerverbrecher Zutritt zur Schule verschafft. Der Junge schließt seinen Ranzen in den Spind, rüttelt an einer verschlossenen Tür, wirft einen Ständer mit Infomaterial um, dreht sich schwer atmend um und blickt in die Kamera. („Tatort – Marlon“, ARD, Sonntag, 20 Uhr 20)

Man denkt unwillkürlich, vorbereitet durch die Inszenierung von Isabel Braak: Wie mag dieses kleine Monster wohl aussehen? Der junge Darsteller Lucas Herzog legt stumme Wut in diesen Blick, während kurz darauf Marlons laut brüllender Freund Pit (Finn Lehmann) von einem Polizisten kaum zu bändigen ist.

Zuletzt hat Nora Fingscheidts Kinofilm „Systemsprenger“ Maßstäbe gesetzt. Der Vergleich ist ein bisschen ungerecht, ein Fernsehkrimi folgt anderen Gesetzen. Während „Systemsprenger“ sich wertfrei auf die Geschichte Bennis (Helena Zengel) und die Überforderung ihrer erwachsenen Umgebung einlassen konnte, gilt es hier, einen oder eine Schuldige für den tragischen Tod des Kindes zu finden.

Es müssen verschiedene Spuren gelegt, Figuren als verdächtig aufgebaut und auch die Kommissarinnen müssen irgendwie ins Thema eingebunden werden. Braak und Autorin Karlotta Ehrenberg gelingt das zwar, aber ein „Systemsprenger“ ist ihr Film nicht. Über das Formelhafte eines typischen Reihenkrimis weist „Marlon“ nur in Ansätzen hinaus.

Dieses Mädchen-Klischee ist dennoch befremdlich

Neben dem verständnisvollen Sonderpädagogen, der in einem üppig eingerichteten Schulraum haust wie ein Außerirdischer und auch dank seines Hundes Zugang zu den Kindern findet, treten weitere erwartbare Figuren auf: die junge, überforderte Lehrerin, der grantige Hausmeister oder der Helikopter-Vater, der sich permanent beschwert.

Treffend überspitzt ist die Szene, in der Oliver Ritter (Urs Jucker) zwei Ordner hervorholt, in der er alle Vorkommnisse in der Schule notiert hat. Da ist es nicht verwunderlich, dass sich seine Tochter Madita (Hanna Lazarakopoulos) zur Petze entwickelt hat, aber die Wiederauferstehung dieses Mädchen-Klischees ist dennoch befremdlich. Dies hatte Nora Fingscheidt in „Systemsprenger“ vermieden.

Hier rasten wie üblich die Jungs aus. Wie sehr sich Autorin Ehrenberg bemüht, dem Thema gerecht zu werden, macht sich in einigen Dialogen bemerkbar, die nicht nach echtem Leben klingen. Pits plakativ inszenierte Wut kommt wie aus heiterem Himmel, auch der Grund dafür, dass Marlon vor seinem Tod Angst und Schrecken verbreitete, bleibt ein ungelöstes Rätsel. Die Ratlosigkeit und Not von Marlons Eltern (Julischka Eichel, Markus Lerch) überzeugend zu erzählen, ohne sie zu denunzieren, gehört zu den Stärken des Films.

Die Kommissarinnen führen das Publikum als Leitfiguren durch den tragischen Fall und bringen gleichzeitig ihre persönlichen Erfahrungen ein. Wobei der arme Kriminaltechniker Peter Becker (Peter Espeloer) eher grundlos Opfer eines Wutausbruchs von Lena Odenthal wird, vielleicht um die Behauptung zu untermauern, auch die Kommissarin sei mal ein schwieriges Kind gewesen.

Dafür ist der Mutter- und Beziehungsstress der jüngeren, alleinerziehenden Kollegin Stern mehrfach Gesprächsthema, aber eine blutleere Angelegenheit, weil weder Kinder noch Ex-Partner zu sehen sind. Praktischer Tipp für alle Wutschnaubenden: Einfach in die leere Einkaufstasche aus dem Kofferraum brüllen.

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