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Boulevard kann auch ernsthaft. "RTl Aktuell" mit Peter Kloeppel und Ulrike von der Groeben.

© RTL

Ungerechte Fernsehwelt: Applaus für Eskapismus, Buhrufe für Information

Das IBES-Fernsehen wird in Ruhe gelassen, das öffentlich-rechtliche Fernsehen erntet Empörung bis zum Hass. Wie kann das sein? Ein Kommentar

Es gibt Vorgänge, die kann man zur Kenntnis nehmen oder schlichtweg ignorieren. „DSDS“-Gewinner Prince Damien hat die 14. „IBES“-Ausgabe gewonnen. Das ist ebenso zur Kenntnis zu nehmen wie die erneut sehr solide Quote der Dschungelshow: Im Schnitt 5,28 Millionen Zuschauer verfolgten die 16 Tage. Damit steht fest, was zu Beginn 2021 im privaten RTL-Programm laufen wird. „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus“, 15. Staffel.

Der anhaltende Erfolg zeigt, was für einen Teil des Publikums Fernsehen ist: Amüsement, Entspannung, Schadenfreude. Es wird akzeptiert, dass sich das kommerzielle TV-System in seinen erfolgreichsten Programmen über die Jahre und Jahrzehnte vom Anspruch eines Vollprogramms verabschiedet hat. Information heißt dann Tratsch und Verbrechen, Skandal und Verbraucherschutz, einzig und allein Marktführer RTL gibt den Nachrichten und THemen des Tages noch den notwendigen Raum und die gebotene Aufmerksamkeit. Unter dem Ansturm der Streaming-Plattformen wird über die Sender hinweg die eingeübte Unterhaltung mehr denn je präferiert, die x-te Staffel „DSDS“, das „Nackt-Experiment“, „The Masked Singer“ belegen den Professionalismus der Sender.

Eskapismus fürs Leben gern

Bedürfnisse werden befriedigt, Eskapismus wird geliefert, Härten im persönlichen Dasein können überbrückt werden. Das private Unterhaltungsfernsehens hat seine Funktion, seinen Erfolg. Wie merkwürdig aber ist zugleich, dass sich an diesem Fake-Fernsehen kaum Kritik aufbaut, wenig Pöbelei, weder Shiter noch Hater zum Gipfelsturm ansetzen?

Wachsende Teile der Gesellschaft wollen gar nicht mehr (erkenntnisbasiert) aufgeklärt werden, sondern sich an einer bestimmten Sichtweise festklammern - um demzufolge alles bei Seite schieben, was diese Sichtweise in Frage stellen könnte.

schreibt NutzerIn Freiheit-der-Andersdenkenden

Kritik und all die vergleichbaren Entäußerungsformen sind gleichsam für das öffentlich-rechtliche Fernsehen reserviert. Satire, ob von Dieter Nuhr, Jan Böhmermann oder als „Umweltsau“-Video, gibt öffentlicher Erregung ordentlich Futter. Nachrichten, Informationen werden von einer lautstarken Klientel als Provokation verstanden, als Falsch-Nachrichten, als Volksverdummung, als Auslöser für welche Attacke auch immer. Der Vorwurf, hier seien von Regierung, Parteien, Behörden, also vom „Staat“ gelenkte Medien am Werk, zu denen selbstredend auch weitere seriöse Publizistik von Tagesspiegel bis „Spiegel“ gehört, führt die Hand zum Wutausbruch auf Smartphone und Laptop.

37 Prozent wollen Schlussstrich unter Nazi-Geschichte

Das muss Nachdenklichkeit auslösen, nicht aber zur Resignation führen. Information, die zu allgemeiner Aufklärung, autonomer Meinungsbildung, zum faktenbasierten Diskurs führt, ist unabdingbar. Und notwendig, dringend notwendig. Die Deutsche Welle hatte Infratest dimap mit einer aktuellen Umfrage zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz beauftragt. Darin wünschten sich 37 Prozent einen Schlussstrich unter die Geschichte des Nationalsozialismus. 60 Prozent fordern, sich auch weiterhin in gleichem Maß mit dieser Zeit zu beschäftigen. Ist dieses Mehrheitsverhältnis beruhigend? Beunruhigend ist die Tendenz, wonach die Zahl der Schlussstrich-Befürworter steigt. 2018 waren es 26 Prozent, 2019 schon 33 und jetzt sind es 37 Prozent.

ARD, ZDF, Phoenix, das öffentlich-rechtliche Fernsehen (wie auch diese Zeitung) covern den Jahrestag in aller gebotenen Breite und Tiefe. Über die Wirkungen und Auswirkungen ist damit nichts gesagt. In der genannten Umfrage sind für jeden Vierten die Erinnerungen an die Verbrechen der Nazis „zu viel“, 55 Prozent finden den gesellschaftlichen Umgang mit diesem Thema angemessen.

Auschwitz im IBES-Fernsehen?

Zu viel? Zu wenig? Die Zahlen sprechen eine eigene Sprache, Quantität in der Erinnerungskultur ist keine Antwort, wo Qualität gefragt ist, wo ein Ritual zur bloßen Wiederholung wird, verliert es seinen Wert. Und doch sind diese Zahlen eine Herausforderung, auch 2021, zum 76. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, die Erinnerung hoch- und wachzuhalten. In der Gesellschaft, in den Medien - warum nicht auch in einem Fernsehen, das das Leben sehr einfach, nach Gelatine aussehen lassen will?

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