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Medien: Unsere kleine Drucksache

Skurrile Rankings und Dresden-Pop – Chefredakteur Tim Sommer hält Europas größtes Kunstmagazin „art“ auf Kurs

Das Foto auf der ersten Seite täuscht. Als netter Junge kommt er rüber, die schmalen Lippen eher unwillig zum Lächeln hochgezogen. Glücklich wirkt er nicht gerade. Der weißlich-nebulöse Hintergrund scheint ihn aufzusaugen, als wäre es eine riesige Museumsflucht, die den kleinen Kerl da vorne gleich in die Tiefe reißt. „Naja, die Aufnahme ist auch schon über fünf Jahre alt“, gesteht Tim Sommer. Ganz will ihm das Lächeln noch immer nicht gelingen, auch wenn er in seinem modisch karierten Anzug mit den schwarzen überlangen Schuhen fülliger und alles andere als unsicher erscheint. „Ich müsste es mal austauschen lassen.“ In der Tat, denn dieses Bild neben seinem Editorial als Chefredakteur auf Seite eins vom „art“-Kunstmagazin bestätigt nur die Legende vom Leichtgewicht, das nun in den übergroßen Schuhen seines Vorgängers steckt.

Seit anderthalb Jahren ist Tim Sommer erster Mann von Europas größter Kunstzeitschrift, wie das Heft für sich selber wirbt. „Sicher sogar weltweit“, ergänzt der 36-Jährige. 1979 wurde „art“ gegründet, eine Erfindung des damaligen „Stern“-Kulturchefs Axel Hecht, der ein Kunstmagazin auf dem deutschen Markt vermisste, das dem Leser auch ohne größere Vorbildung erklärt, was in den Museen zu sehen ist und in der Szene passiert. Tim Sommer ging damals noch in Freyburg in Sachsen-Anhalt zur Schule, von Kunst und „art“ noch weit entfernt. Der Vater Zahnarzt, die Mutter Apothekerin, von Haus aus hielt man Distanz zum Staat. Aber das erklärt noch nicht die Nähe zu den schönen Dingen, zur Malerei, zu den Ateliers.

Der sächsische Singsang ist dem „art“- Chef noch anzuhören. Wenn man ihn nach familiären, persönlichen Hintergründen fragt, wird er allerdings einsilbiger. Tim Sommer, das wird schnell klar, steht für ein Gemeinschaftsprodukt, das monatliche Werk eines 22-köpfigen Teams aus Redakteuren, Grafikern, Dokumentaristen. Das Magazin als „meine kleine Drucksache“ zu bezeichnen, wie es Axel Hecht gerne tat, kommt ihm nicht in den Sinn. Nein, er ist weder der bubenhafte Chefredakteur, als der er im Editorial-Porträt erscheint, noch der autokratische Macher, als der sein Vorgänger bei vielen galt. Er muss sich auch nicht seinen Weg erst noch suchen, wie es nach einem Wechsel in der Spitze nach 25 Jahren zu erwarten wäre. Dafür gehört Sommer viel zu lange selbst der Mannschaft an.

Hecht holte den damaligen Leipzig-Korrespondenten schon vor sechs Jahren in die Zentrale nach Hamburg, wo er bald zu seinem Stellvertreter aufstieg. Der junge Sachse, der zuvor Kunst auf Lehramt studiert hatte und erste Kritiken für ein Stadtmagazin schrieb, brachte eine neue Farbe ins Blatt. Mit ihm entdeckte „art“ den „Dresden-Pop“ und die junge Leipziger Malerschule. Der junge Osten gewann neue Aufmerksamkeit. Selbst jetzt, nach anderthalb Jahren im Amt, nachdem Übervater Hecht Ende Mai auch noch die Herausgeberschaft abgegeben hat und Sommer ganz alleine im obersten Geschoss des luftigen Gruner + Jahr-Stammhauses mit Aussicht auf den Hafen und die Hochseedampfer residiert, plant der neue Chef keine fundamentalen Änderungen, sondern will nur „an den Reglern drehen“, wie er es nennt.

Allerdings wäre Sommer auch schlecht beraten, das Magazin völlig umzukrempeln, denn „art“ ist ein Erfolgsmodell. Die Leserschaft ist laut Umfrage hoch gebildet, besser verdienend und ausgesprochen konsumfreudig. Die Rubrik „Kaufe häufiger in guten Feinkostgeschäften, besonderen Weinläden, exklusiven Confiserien“ erzielt den größten Ausschlag in der Statistik, was vor allem für die Anzeigenkunden zählt. Selbst „Monopol“, das 2004 von Florian Illies gegründete glamouröse „Magazin für Kunst und Leben“, kommt an eine verkaufte Auflage von 68 000 des Klassikers „art“ noch lange nicht heran.

Die erhöhte Aufmerksamkeit für das lifestylige Konkurrenzblatt aus Berlin-Mitte quittiert Sommer lässig mit einem Achselzucken: „Das ist ein Medienphänomen – das Neue erscheint zunächst immer als das Interessantere.“ Dass „Monopol“ bei großen Ausstellungen, Messen und in der Business-Class der Lufthansa kostenlos verteilt wird, ficht ihn nicht an: „Wir würden unsere Hefte nie verschenken.“ Sommer bleibt demonstrativ entspannt. Auch den Einzelverkauf von „art“ in Höhe von 10 000 Exemplaren hat der schnittige Newcomer aus der Hauptstadt, der sogar lange Modestrecken druckt, was bis heute bei „art“ undenkbar wäre, nicht berührt. Man beobachtet sich gegenseitig freundlich aus der Ferne; der gegenwärtig boomende Kunstmarkt erlaubt offensichtlich zwei Magazinen ein einträgliches Geschäft.

„Art“ bleibt sich also auch künftig treu – trotz eines Chefredakteurs von Mitte dreißig und einer Mannschaft, die ebenfalls in den letzten Jahren deutlich jünger geworden ist. Mit einem gewissen patriarchalen Stolz führt Sommer in den ersten Stock der „art“-Redaktion, wo alle Titel seit der Gründung vor bald dreißig Jahren im Flur hängen, über 300 an der Zahl. Vor dieser meterlangen Bilder-Galerie versteht man, warum das Magazin-Urgestein Hecht auf den jungen Ostler als Nachfolger setzt. Als jemand, der mit Anfang zwanzig die größten Turbulenzen und Unsicherheiten erlebt hat, ein ganzes System zerbrechen sah, weiß er bewährte Traditionen und Gradlinigkeit zu schätzen.

Die Veränderungen auf den „art“-Titelseiten sind über die Jahrzehnte minimal: mal war die Typografie größer, mal kleiner, mal das Titelbild freigestellt, mal weiß umrahmt. Auch von der inhaltlichen Gestaltung her ist das Gerüst der Gründerjahre geblieben. Wo andere Magazine Relaunches im Jahrestakt erleben, wird dem „art“-Leser nur in homöopathischen Dosen eine Erneuerung verschrieben, ein Phänomen auf dem Sektor der Printmedien. Die Titelgeschichte bewegt sich meist zwischen klassischer Moderne und Zeitgenossenschaft; zum festen Inventar gehören aktuelle Informationen aus dem Kunstbetrieb, Kurzkritiken, Vorabrezensionen und der Ausstellungskalender. Nicht zu vergessen die Endlosserie „Bildbefragung“, seit der ersten Ausgabe betreut von einem heute über siebzigjährigen Kunsthistorikerpaar.

Seit zwei Ausgaben allerdings werden Modifizierungen doch deutlicher sichtbar: Sanft dreht Tim Sommer die Regler in Richtung Gegenwart. Das beginnt mit der Rubrik „Studio“ gleich zu Beginn nach den Leserbriefen. Da wird das ansonsten gesetzte Kunstmagazin, dessen Hauptleserschaft sich in den Vierzigern befindet, sogar spielerisch. In der jüngsten Nummer überraschte hier eine Fotogalerie vom Hamburger Problemquartier St. Georg und eine kuriose Ranking-Liste, in welchem Museum es 2005 am engsten war: Das Tokyo National Museum rangiert mit Hokusai an erster Stelle, die Berliner „Goya“-Ausstellung belegt Platz 42.

Dass sich mit Tim Sommer mehr ändern könnte, verriet früher schon die erste Seite. Das Bild des neuen Chefredakteurs mag zwar knabenhaft wirken, seine meinungsfreudigen Editorials, in denen er mit Sammlern, Museen, Künstlern Klartext redet, sind es keinesfalls. Ein neuer Ton, der dem Magazin auch neue Aufmerksamkeit bescheren könnte.

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