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© ARTE France

Völkerverständigung: Kikeriki und cocorico

Die Arte-Sendung „Karambolage“ bringt Deutsche und Franzosen einander näher – bereits zum 200. Mal

Sonntagabend ist Fernsehabend. Viele Deutsche warten auf den „Tatort“. Doch eine noch fester verschworene TV-Gemeinde fiebert dem Sonntagabend aus anderem Grund entgegen: Wegen „Karambolage“ auf Arte. Nein, das sind keine Amateurvideos von Autocrashs. Das sind 15 Minuten amüsanter Aufklärung über die feinen Unterschiede zwischen Deutschen und Franzosen. Nicht ernst und schwer verdaulich, wie Hochkultur bei Arte mitunter daherkommt. Sondern verspielt, unterhaltsam und hinreißend komisch.

Warum denkt der Deutsche bei Herzschmerz an Liebeskummer, der Franzose spricht aber von „mal de coeur“ wenn ihm kotzübel ist? Warum gibt es in Deutschland Zigarettenautomaten, in Frankreich nicht? Woher kommt der deutsche Brauch des Adventskalenders und wer ist schuld an der Buche de Noël, dem traditionellen Weihnachtskuchen der Franzosen, einer cremegefüllten Biskuitrolle in Form eines Baumstammes? Mit kleinen Trickfilmen, die kreative Meisterwerke sind, geht die Sendung dem Alltag beider Nationen auf den Grund. An diesem Sonntag zum 200. Mal.

Seit 2004 stellen Claire Doutriaux und ihr Team Gegenstände, Gebräuche und Ausdrücke vor, eine Art vergleichender Anthropologie, die nie in Klischees verfällt: „Wir sind immer möglichst konkret, beobachten und beschreiben zunächst ein Wort oder ein Kleidungsstück, bevor wir interpretieren“, erklärt Doutriaux, die für die Konzeption der Sendung 2006 mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet wurde. So soll auch das Rätsel am Ende jeder Sendung, wo eine Straßenszene anhand eines Indizes Frankreich oder Deutschland zugeordnet werden muss, zum genauen Hinsehen anhalten. „Wir gehen nie von einer Verhaltensweise aus oder sagen ,Die Deutschen oder Franzosen sind so und so‘.“ Ganz wichtig ist die Selbstironie, das Augenzwinkern, unterstreicht Claire Doutriaux, die selbst 15 Jahre in Deutschland gelebt hat und nach ihrer Rückkehr nach Frankreich die Idee zu dieser Sendung hatte.

„Karambolage“ versteht sich nicht politisch. Doch die Aufnahmen aus dem Bundestag und der französischen Nationalversammlung von 2004 sind ein Paradebeispiel dafür, wie man ohne große Worte Politikunterschiede – noch dazu amüsant – vermittelt. Im Zeitraffer laufen die 20 Minuten ab, bevor die jeweiligen Parlamentspräsidenten das Hohe Haus zu einer Sitzung betreten. Links sieht man die zunächst leeren Flure des Reichstags, rechts auf dem gesplitteten Bildschirm den ebenso leeren Eingang zur Assemblée Nationale in Paris. Während links der damalige Parlamentspräsident Thierse ins Bild schlendert, am Geländer halt macht und auf die Uhr schaut, marschiert rechts die republikanische Garde in bunten Uniformen mit Federbüschen auf, bringt sich millimetergenau in ein gerades Spalier. Während in Paris Marschmusik einsetzt, als der Parlamentspräsident den Gang betritt, reißt sich links im Bild irgendwann der einsame Thierse von seinem Geländer los und huscht unbemerkt in den Saal. Beim Ritual der Franzosen schwingt der Stolz auf die Geschichte mit, die Nachkriegsdeutschen verzichten auf jedes pompöse Zelebrieren von Macht.

Völlig ohne Worte kommt die Wortmalerei aus, wenn Kinder in beiden Ländern vormachen, wie ein Hahn kräht: kikeriki und cocorico. Oder wie sie aufschreien, wenn sie sich in den Finger geschnitten haben: aua und aiie. Doch am witzigsten ist oft, wenn ein Franzose ernsthaft und detailversessen den Gegenstand vorstellt, der ihm im Nachbarland am meisten fehlt oder am besten gefällt: Beispielsweise den Eierpicker, der Lieblingsgegenstand von Claire Doutriaux, den es auch beim Rätsel zu gewinnen gibt. Regelrecht frech sind die Erinnerungen einer Französin an die Bekanntschaft mit dem Nudelsalat, der in den 70er Jahren zu jeder WG-Fete in Deutschland gehörte. An dessen Zutaten aus der Dose aber heute in Deutschland auch niemand mehr erinnert werden will.

Löblich und der gesellschaftlichen Realität angemessen ist sicher, dass sich „Karambolage“ neuerdings auch für Migranten in beiden Ländern öffnet, die eigene Bräuche vorstellen. Allerdings merkt man hier, dass politische Korrektheit mit Witz und Humor eben nicht vereinbar ist.

Die virtuosen Trickfilme, in welche die Texte verpackt werden, erschaffen etwa 50 freie Grafiker auf beiden Seiten des Rheins. Die Herstellung ist sehr aufwendig, da es zum gleichen Film zwei Tonspuren gibt – französisch und deutsch. Die Schlüsselwörter müssen in beiden Texten im gleichen Moment fallen, auch wenn der Erklärungsbedarf oft unterschiedlich ist. Das vergleicht Doutriaux schon mal mit der Arbeit einer „Spitzenklöpplerin“. Da nicht alle Grafiker deutsch-französisch geschult sind, müssen die Redakteure darauf achten, dass die Fenstergriffe oder die Marke des Spülmittels für das jeweilige Land stimmen. An einem dreiminütigen Trickfilm wird oft Monate gearbeitet. Das Ergebnis sind kleine Kostbarkeiten.

Zum Jubiläum gibt es ein Experiment, das auch die große Gemeinde der Sportfreunde interessieren könnte. Der französische Fußballer Willy Sagnol, der einst bei Bayern München spielte, erinnert sich an seine Entdeckung der bayerischen Urkultur, sein deutsches Lieblingswort und den Gegenstand, den er am meisten vermisst. Und zum Valentinstag gibt es ausnahmsweise um Mitternacht eine Sondersendung, die laut Doutriaux „nicht wiederholt wird“. Das Thema lässt sich denken. Ansonsten gilt: Rendez-vous sonntags um 20 Uhr. Vor dem „Tatort“.

„Karambolage“-Jubiläumssendung, Arte, ausnahmsweise um 20 Uhr 40

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