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Medien: Wie geht eigentlich küssen?

Immer nah dran an der Jugend, an den Fragen und an den Stars, die die Jugend bewegten. Die Jugend widerspiegeln, sie prägen und aufklären. Dafür hatte die „Bravo“ lange Zeit das Monopol. Nun nicht mehr. Chefredakteur Jürgen Bruckmeier setzt auf Besuche bei McDonalds und – Sex

Von seinem Büro aus benötigt Jürgen Bruckmeier etwa fünf Minuten bis ins Forschungsgebiet. Vier Stockwerke hinunter, hinaus auf die Charles-de- Gaulles-Straße, dann links, nach rund 300 Metern wieder links, dann steht Bruckmeier schon mitten drin im Feld, im PEP-Einkaufszentrum, Stadtteil Neuperlach, München. Hier ist die Stadt so gar nicht München. Viele Hochhäuser, viele Ausländer, viele Haupt- und Realschüler – viele potenzielle „Bravo“- Leser, meint der 33-Jährige, seit 1. September Chefredakteur der „Bravo“. „Man muss ganz dicht bei der Zielgruppe sein“ sagt er. „Feldforschung“ nennt er das.

In den ersten Wochen als neuer Boss der Teenie-Postille ging er dafür zwei Mal die Woche in ein Fast-Food-Restaurant im Einkaufszentrum, aß ein Menü, schlürfte an einem Halb-Liter-Becher und lauschte. „Wie geht eigentlich Küssen?“, fragten sich zwei Mädchen am Nachbartisch, und Bruckmeier fragte sich, ja Mensch, wie geht eigentlich Küssen? Und: Wie kann man das erklären? Da kam ihm die Idee mit der „Foto-Aufklärung“, und weil Küssen für illustre Fotos ein bisschen wenig ist, zeigt die neue Rubrik alles, wie Liebe und Sex so funktioniert, vom Kennen lernen bis zum Geschlechtsverkehr mit viel nackter Haut und rasiertem Schambereich. Immer ganz dicht dran an der Zielgruppe.

Seitdem Peter Boenisch die „Bravo“ 1956 erfunden hat, war darin die größte Jugendzeitschrift Europas ein Meister: Immer ganz nah dran an der Jugend, an den Fragen und an den Stars, die die Jugend bewegten. Die Jugend widerspiegeln, prägen und sie aufklären, dafür besaß sie lange Zeit das Monopol. Hefte wie „Yam“ oder „Popcorn“ haben jedoch die Alleinstellung der „Bravo“ gebrochen, und MTV und Viva haben die aktuellen Themen um die Stars und Sternchen weggenommen. Außerdem: Der Star von heute ist der No-Name von morgen. Für echte Star-Verehrung bleibt keine Zeit mehr.

„Bravo“ ist in der Krise. 621 000 Exemplare betrug die verkaufte Auflage im vierten Quartal 2003. Das sind 76 000 Hefte weniger als im Vorjahreszeitraum und fast 800 000 weniger als im 40. Jubiläumsjahr 1996, wo die Auflage bei über 1,4 Millionen Exemplaren lag. Nun soll es der studierte Journalist Jürgen Bruckmeier richten, der 2000 stellvertretender Chefredakteur von „Bravo“ war, danach Redaktionsleiter von „Bravo.de“ und zuletzt Chefredakteur der Computerzeitschrift „PC-Welt“.

In seinem Büro läuft Viva oder MTV – auf einem Bildschirm, fast drei Mal so groß wie ein „Bravo“-Poster, meist den ganzen Tag über, oft lautlos. In der anderen Ecke steht ein gerahmter Udo Jürgens und lächelt. Das überdimensionale Titelbild der „Bravo“ vom 6. April 1970 ist ein Geschenk der Redaktion. Bruckmeier wurde in jener Aprilwoche geboren.

Er hat sich Zeit gelassen bis zu seinem ersten Interview seit Übernahme des Postens. Er wollte die hundert Tage Bewährungszeit, wie man sie von Politikern kennt, dann kam Weihnachten und der Produktionsstress wegen der Feiertage. „Ich gebe nicht gerne Interviews“, sagt er.

Man will ihm das kaum glauben, denn er redet gerne über seine Ideen und seine Konzepte für „Bravo“. Er ist dann freundlich und jugendlich heiter, und man nimmt ihm sofort ab, dass er schon mit 16 Jahren den Traum hatte, Chefredakteur der „Bravo“ zu werden. Aber wenn Kritik fällt, weicht die Herzlichkeit aus seinem Gesicht, und sein massiger Körper mit der prägnanten Glatze wirkt hart.

Zum Beispiel bei den Auflagenzahlen. „Keine Frage“, sagt er, „die Zahl hat wehgetan.“ Den Satz lässt er alleine stehen. Und eine Erklärung? „Konzeptänderungen brauchen Zeit. Und ich rede nicht schlecht über meine Vorgänger“, sagt er und streicht dabei mit einer weit ausholenden Handbewegung über den Konferenztisch in seinem Büro, als könne er die miesen Statistiken mit einem Wisch davon fegen. Seine ersten Neuerungen seien erst Mitte Dezember eingeflossen, und außerdem sei der Markt verdammt schwierig.

Der Markt, ein seltsames Phänomen. War „Bravo“ Mitte der 90er Jahre noch unangreifbar und voller Erfolg, war sie zur Jahrtausendwende fast um die Hälfte geschrumpft. Wie konnte das geschehen? Falsche Konzepte? Fehlende Stars? Die undurchschaubare Jugendkultur? Oder doch die Konkurrenz? Alles hatte seinen Anteil daran. Erst fehlten die Stars, dann gab es Streit zwischen dem Mutterverlag Bauer in Hamburg und dem „Bravo“-Geschäftsführer in München. Ende 2000 kam das Konkurrenzblatt „Yam“ vom Verlag Axel Springer auf den Markt, und schließlich gaben sich die Chefredakteure bei „Bravo“ die Klinke in die Hand; in den vergangenen vier Jahren waren es drei. Jeder von ihnen glaubte zu wissen, wie die Jugend tickt und welche Stars sie braucht – und scheiterte. Vielleicht deshalb, weil die Starverehrung, von der „Bravo“ lebt, heute oberflächlicher ist als früher. Vielleicht auch, weil sich Jugendliche immer früher ernsthafte und fundamentale Fragen stellen und Ängste und Zukunftssorgen haben, und die Bravo, wenn überhaupt, nur auf ihren Dr. Sommer-Seiten darauf eingeht. Und das dann mit Überschriften wie „Meine Eltern streiten ständig“ oder „Ich will endlich in die Disco!“.

Jürgen Bruckmeier hat die Zwölf- bis 15-Jährigen, die Kernzielgruppe der „Bravo“, nach seiner Ansicht sehr genau analysiert und die Erkenntnis gewonnen: Jugendliche von heute sind vor allem normal und wechseln die Begeisterung für einen Star so schnell wie ihre Sweatshirts. Trotzdem sagt er diesen Satz: „Stars sind der Schlüssel zum Glück.“ Diesen Widerspruch will er mit „alternativen Ansätzen“ lösen, und klar, die „Bravo“ müsse sich „weiterdrehen“. Was ein Chefredakteur eben so sagt, der angetreten ist, dem Blatt wieder Glanz zu verleihen.

Und Sex gehört dazu. Das sagt er nicht, er verneint das vielmehr, aber in den Heften steht es anders, beispielsweise in Ausgabe fünf dieses Jahres: Auf der Titelseite greift sich Rockgöre „Pink“ an die Brust und ruft: „Ja, ich bin sexsüchtig!“ Im Text gesteht sie: „Ich lecke gerne Körperteile ab.“ Und groß in der Bildunterschrift: „Pink: Ich steh auf Tommy – er hat den Größten!“ Bruckmeier sagt: „Pink ist hart. Wenn man eine Geschichte über Pink macht, dann muss die so sein wie Pink selbst.“ Mehr Sex bei „Bravo“, nein, das sei ein falscher Eindruck.

Ein anonymer Brief – angeblich aus der „Bravo“-Redaktion – von Mai vergangenen Jahres, der „Focus“ zugespielt wurde, zeigt ein anderes Bild. Von „immer stärkerer Sexualisierung“ ist darin die Rede, „von sehr extremen Darstellungen“ und „fingierten oder frisierten Leserbriefen.“ „Wir fürchten um unser Image und schämen uns mittlerweile, Mitarbeiter von ,Bravo’ zu sein“, zitiert das Magazin einen Absender, der sich „Aus der Redaktion ,Bravo’“ nennt.

Bruckmeier will dazu keinen Kommentar geben; er war zu dieser Zeit noch nicht Chefredakteur. Über Dinge wie die Feldaufklärung redet er lieber. Zum Beispiel über „Meet the Leser“. Da quetschen einmal im Monat Marktforschungs-Experten in der Redaktion potenzielle Leser aus, warum sie zum Beispiel nicht mehr so gerne „Deutschland sucht den Superstar“ angucken, oder welcher Star gerade toll ist. Oder über die „Beliebtheitsliste“. Sämtliche Anfragen zu den Stars vermerkt die Leserredaktion mit einem „positiv“ oder „negativ“. Oder die Fernseh-Einschaltquoten der Zwölf- bis 16-Jährigen, auch ein beliebtes Instrument.

Bruckmeier will die Bravo „komplett umstricken“, die Markt- und Leserforschung dient ihm dazu als Strickzeug. Mehr Service, mehr Comedy-Elemente, mehr Stars im privaten Leben und weniger Nachrichten sind seine Ansätze. Nach Auswertung der Dr. Sommer-Redaktion handeln rund 80 Prozent der Zuschriften vom Flirten. Also hat Bruckmeier die Rubrik „Blind-Date“ eingeführt, bei der „Bravo“ für zwei Leser ein Kennenlern-Treffen arrangiert. Oder „Cosmos“. Weil die Zwölf- bis 16-Jährigen gerne populärwissenschaftliche Sendungen gucken, gibt es in „Bravo“ nun eine Art Wissenschaftsseite. Weitere Rubriken sind das „Starduell“, in der zwei Promis gegenübergestellt und bewertet werden sowie das „Quickchat“- Interview mit Fragen wie: „Was fällt Dir ein zum Thema xy?“, oder „Vervollständige diese Sätze …“. Neu ist auch das Design der Titelseite mit geänderter Schrift und großem Foto eines Stars.

Klar, Bruckmeier glaubt, dass er eine gute „Bravo“ macht. Falls die Neuerungen aber den Lesern nicht gefallen sollten, wird er wohl wieder öfter ins Forschungsgebiet gehen, ins PEP-Einkaufszentrum, in Neuperlach, dort wo München so gar nicht München ist und viele „Bravo“-Leser wohnen sollen.

Matthias Eggert

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