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Medien: „Wir alle wollen Teil der gemeinsamen Hilfe sein“

Der Medienforscher Groebel über richtige und falsche Bilder zur Flutkatastrophe, ihre Wirkung – und wann wir sie nicht mehr sehen können

Seit dem zweiten Weihnachtstag rollt die Bilderflut nach der TsunamiFlut. Haben Sie Bilder gesehen, die nicht hätten gesendet werden dürfen?

Nur sehr wenige. Die grausam verstümmelten Leichen sind zwar sehr schockierend, trotzdem waren die einzelnen Menschen nicht zu identifizieren, ihre Würde und ihr Recht auf Totenruhe sehe ich damit nicht als gefährdet an. Zudem merkte man Journalisten und Reportern an, wie sehr sie das Geschehen berührt hat und dass sie eben nicht spekulativ mit den Bildern umgingen. Dieses Berührtsein hat sich auch auf die meisten Betrachter übertragen. Für problematisch halte ich lediglich die Klarbilder der Touristen, die sich trotz der Katastrophe weiter „erholen“. Obwohl deren mangelndes Feingefühl empörend sein mag, muss man sie nicht mit moralisch erhobenem Zeigefinger sichtbar an den visuellen Pranger stellen. Anonymisierte Bilder hätten hier genügt.

Um eine Katastrophe als echte Katastrophe abzubilden: Was muss gezeigt werden?

Hier gibt es keine Normen, und erst recht sollte sich kein Experte oder Wissenschaftler anmaßen, eine solche aufzustellen. Wir müssen uns allerdings deutlich machen, dass jeder Mensch im Laufe der Jahre schon so viele entsetzliche Medienbilder gesehen hat, dass es zunächst immer schwieriger zu sein scheint, ein noch einmal so alles übertreffendes Ereignis wie die Tsunami-Katastrophe überhaupt noch „angemessen“ zu illustrieren. Hier haben uns die letzten Tage allerdings die Antwort von selbst gegeben. Da eben so viele Bilder vorliegen, wird das ganze Spektrum der Katastrophe auch in allen Facetten sichtbar: die Zerstörung der Dörfer und Städte, die Toten und Verletzten, die verzweifelten Hinterbliebenen, die Bildberichte einzelner vom Beginn des Urlaubs an bis hin zum plötzlichen Ende. Hier werden Menge und Vielfalt der Bilder mit den entsprechenden Texten auch zu einem Gesamtuniversum des Schreckens, weit über die Wirkung einer einzelnen Abbildung hinaus.

Also siegen die Bilder des Schreckens über das Bild des Schreckens.

Wir müssen schon sehen, wie manches Foto, mehr vermutlich als die Fernsehsequenzen, die gesamte Essenz des Geschehens einfängt: die alte Indonesierin mit den vor den Mund gerissenen Händen, die vor der Flutwelle weglaufenden Touristen, die aus der Verankerung geschmetterten Gleise im Dschungel Sri Lankas. Diese Fotos werden zu den Ikonen, die uns noch lange im Gedächtnis haften bleiben und die von den Redaktionen durchaus gezielt gesucht und eingesetzt werden.

Was macht uns die Zahl von 150 000 Toten erfahrbar? Tote am Strand, Leichensäcke …?

Erfahrbar zu machen ist eine solche Zahl letztlich gar nicht. Wieder ist es die Kombination aus „abstrakt“ bleibenden Bildern großer Leichenzahlen und dem Sichtbarmachen einzelner Schicksale, wenn man etwas über die erfährt, die noch vor wenigen Tagen fröhlich lebten, wenn man ihre Fotos im Familienkreis sieht oder sieht, was sie noch Minuten vor der Katastrophe nichts ahnend am Strand machten. Hier entsteht die Identifikation, hier wird uns deutlich, wie schnell unser aller Leben zu Ende sein kann, wenn wir zur falschen Zeit am falschen Platz sind, wie eine Katastrophe innerhalb von Minuten das einzelne Leid verhundertausendfachen kann. Das ist, denke ich, auch das, was uns berührt: Selbst wenn wir niemanden kennen, der jemanden kennt, der zu Tode kam, die Katastrophe lässt uns auch innehalten, weil wir uns unserer eigenen Endlichkeit drastisch bewusst werden. Auch darüber, dass wir uns in die Lage der abgebildeten Toten versetzen.

Rufen extreme Bilder extremes Mitleid hervor?

Nicht automatisch. Ganz im Gegenteil kann eine sehr extreme Darstellung auch einen Abwehrmechanismus aktivieren. Zudem ist es die Frage, ob die Bilder wirklich vor allem Mitleid auslösen sollten. Vielleicht muss Berichterstattung auch zunächst einmal nur die Realität wiedergeben, ohne sofort das Mitleid mitzudenken. Das immense Spendenaufkommen zeigt aber, dass die Bilder in der Mischung genau den richtigen Nerv getroffen haben. Diese Wirkung lässt jede Spekulation über besseren oder schlechteren Bildereinsatz verblassen.

Der normale Mediennutzer hat viele Katastrophen gesehen. Muss er nicht immer stärkere Bilder sehen?

Mehrere Tendenzen sprechen dafür, dass sich die Menschen schnell an grausame Bilder gewöhnen. Es gibt immer mehr Kanäle, über die uns jedes denkbare Bild erreicht: die große Zahl an Fernsehsendern, das Internet mit einer nicht mehr zählbaren Menge an Bilderquellen, die gedruckten Medien. Hinzu kommt der Quantensprung, mit dem nahezu jeder Mensch zu einem Lieferanten von Bildern geworden ist. Die Einspeisung von Abbildungen in den internationalen Nachrichtenfluss ist nicht mehr länger das Privileg professioneller Journalisten, gerade bei der gerade geschehenen Katastrophe sind diese sogar eher zu „Verwaltern“ der Amateurfotos und -videos geworden. Handycams, MMS, Digitalfotographie sind selbst in den Händen ärmerer Menschen keine Ausnahme mehr. Damit nimmt das Spektrum auch grausamer Bilder durch Vervielfachung der Quellen weiter zu.

Bei dieser Katastrophe wird aber doch sensibel mit dem Material umgegangen.

Moderne Mediensozialisation heißt zunächst, dass auch den Marktgesetzen gehorchend auf das Spektakuläre etwas noch Spektakuläreres folgen muss. Immerhin werden in den „offiziellen“ Medien nach wie vor viele extreme Bilder nicht gezeigt, die zum Beispiel im Internet ungefiltert sehr wohl zugänglich sind. Die Dosierung und Filterung durch die professionellen Redakteure funktioniert immer noch.

Ein neues Phänomen ist da: das Video-Blogging. Im Internet werden Bildersequenzen, anders als im Fernsehen, in voller Länge und voll realistischer Grausamkeit gezeigt. Die Zugriffsraten sind enorm. Sind die V-Blogger ehrlicher oder sind sie nur grausamer, und die Nutzer voyeuristischer?

V-Blogger sind nicht besser oder schlechter als andere Menschen. Allerdings müssen sie sich nicht, anders als professionelle Journalisten, an bestimmte Codes und Standards halten, höchstens informell. Damit öffnet sich die Tür zu einem schlimmstenfalls leichtfertigeren Umgang mit Bildern, manchmal aus Sensations- und Wettbewerbslust, manchmal aus ehrlicher moralischer Überzeugung.

Wie verändert das die Bilderkultur?

Was im Internet sowieso schon gezeigt wurde, wird für die Presse zitierfähiger, das Fernsehen rückt auch näher an die Opfer heran, und so entsteht eine Wechselbeziehung zwischen den „offiziellen“ und „inoffiziellen“ Abbildungen. V-Blogging wird noch wichtiger werden, bestenfalls entwickeln sich hier immer klarere Standards der Selbstverantwortung. Sie ist schon heute relativ stark ausgeprägt.

Fernsehgalas zum Spendensammeln: Heiligt der Zweck die Mittel?

Trotz mancher Geschmacksverirrung schon im Begriff „Gala“, bei dem sich der Schrecken mit einem festlichen Freudenereignis paart, tut kaum jemand nur Gutes ohne irgendeine Art von Hoffnung auf persönlichen Nutzen – und sei es ein Platz im Himmelreich oder das Wohlfühlen in einer hilfreichen und harmonischen Welt. Über Geschmack lässt sich nicht streiten, und das Spendenaufkommen beweist, dass die Form der Medienansprache gerade durch die Vielfalt erfolgreich war. Wir alle wollen Teil einer gemeinsamen Aktion sein, lassen uns gern in der Hilfe zusammenschweißen.

Wie viel Berichterstattung erträgt der Mensch? Und wie lange noch?

Das „Ertragen“ ist gar nicht einmal so sehr die Frage wie das „Gewöhnen“. Allmählich werden wir wieder zur Tagesordnung übergehen, wird die Katastrophe außer bei den direkt Betroffenen aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit verschwinden. Allerdings war die Katastrophe von so großer natur- und weltgeschichtlicher Bedeutung, dass sie vermutlich für die meisten Menschen, besonders durch die Berichterstattung, an der wir auch Wichtigkeit messen, ähnlich wie der 11.September eine biografische Zäsur, eine Lebensmarkierung darstellen wird. Genau wie das New York-Ereignis werden uns einzelne Bilder für immer im Kopf hängen bleiben, so, als wären wir selbst dabei gewesen. Denn das macht meines Erachtens die Stärke der gesamten Berichterstattung aus: Sie hat uns die Katastrophe unmittelbar ahnen lassen und eben nicht mehr die voyeuristische Perspektive ermöglicht.

Das Interview führte Joachim Huber.

Jo Groebel ist Direktor des Europäischen

Medieninstituts in Düsseldorf und

Professor für Medienwissenschaften an der Universität

Amsterdam.

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