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Die Meinung und die Gegenmeinung – mit diesem Slogan ist der arabische Nachrichtensender Al Dschasira (im Bild die englische Schreibweise) angetreten. Aber von diesem Geist im Gründungsjahr 1996 ist wenig geblieben.

© dpa/Tim Brakemeier

Wo steht der Nachrichtensender Al Dschasira?: Für Emir und Vaterland!

Der innerarabische Konflikt am Golf sollte medial ein Glücksfall für einen Nachrichtensender wie Al Dschasira sein. Eigentlich.

Legendär ist die Szene in einem syrischen Theaterstück aus den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts über die Lage der arabischen Medien damals: Als zwei Dorfbewohner irgendwo im Nahen Osten Schüsse nebenan gehört haben, drehte sich der eine zum anderen und sagte: „Stell das Radio auf BBC London ein, damit wir wissen, was hier los ist!“ So sicher war man sich, dass die eigenen staatlichen Medien nichts über die Schüsse, ja nichts auf die Reihe bringen würden. Diese Szene erklärt die grenzenlose Begeisterung der Araber, als ein arabischer, professioneller, kritischer Nachrichtensender namens Al Dschasira Ende 1996 an den Start ging, der von der katarischen Hauptstadt Doha sendete und via einfacher Satellitenschüssel überall zu empfangen war. Vom mutigen, unabhängigen, ja rebellischen Sender war die Rede damals. Spätestens mit der innerarabischen Krise am Golf ist klar: Vom Geist der ersten Jahre ist beim Mythos-Sender nicht viel übrig geblieben.

Bereits die erste Nachricht ganz oben auf der Internetseite des bekanntesten arabischen Nachrichtensenders glich Mitte Juni 2017 eher einer Mitteilung in eigener Sache als einer Meldung von Weltrang: „Mattis und Al-Attiyah unterschreiben Kampfjets-Deal.“ Gemeint war der Kauf von 72 amerikanischen F15-Kampfflugzeugen für zwölf Milliarden Dollar durch Katar. Die Nachricht über die Übereinkunft zwischen US-Verteidigungsminister James Mattis und dem katarischen Vizeverteidigungsminister Khalid Al-Attiyah ließ in dieser Aufmachung kaum Platz für „Sonstiges“. Themen wie der Tag nach dem gewaltigen Brand im 24-stöckigen Grenfell Tower in London, die zur gleichen Zeit parallel laufende jährliche Pressekonferenz des russischen Präsidenten Wladimir Putin in Moskau, aber auch die Ausweitung der Ermittlungen gegen US-Präsident Donald Trump in Washington mussten nach ganz unten rutschen. Die Botschaft der Deal-Nachricht: Wer noch bei Amerika Kampfjets kauft, hat eine Lebensversicherung und kann nicht ein Terrorunterstützer sein.

Nur Solidarität mit Katar

Nichts anderes wollten auch andere Meldungen auf der Seite vermitteln, mal über die Solidarität der sudanesischen Straße mit Katar, mal über die der türkischen Regierung oder auch mal über die muslimischer Gelehrter, die eine Fatwa, ein religiöses Gutachten, aussprachen und die von den Nachbarstaaten gegen Katar verhängte Blockade als „haram“ (religiös verboten) einstuften.

Saudi-Arabien, Ägypten, Bahrain und die Vereinigten Arabischen Emirate hatten Anfang des Monats die diplomatischen Beziehungen zu Katar abgebrochen und den Flugverkehr eingestellt. Sie werfen Doha unter anderem Terrorismusunterstützung vor. Doch genauso wie auf der Internetseite des Senders wurde dieser schwerwiegende Vorwurf auch auf dem eigenen Bildschirm nicht diskutiert, sondern lediglich aus der Deckung heraus abgewehrt und teilweise einfach ignoriert. So erfuhren die über 50 Millionen arabischen Haushalte, die der Sender nach eigenen Angaben zwischen dem Persischen Golf und dem Atlantik erreicht, nichts über die Worte Trumps, die Zeit sei gekommen, um Katar dazu aufzurufen, die Finanzierung von Terrorismus zu beenden. Die Äußerungen vom US-Außenminister Rex Tillerson hingegen konnte der Sender nicht oft genug wiederholen. Dieser betonte, dass die Blockade gegen Katar den Anti-IS-Einsatz behindere und humanitäre Auswirkungen „besonders in diesem heiligen Monat Ramadan“ habe. Wer gehofft hat, dass diese Mobilisierungs-, Selektions- und Beschwichtigungstendenzen des Senders bei den sonst so kontroversen Talkrunden aufhören würden, sah sich schnell enttäuscht. Am ersten Dienstag nach dem Ausbruch der Krise am Golf lauerten Millionen Araber vor den Bildschirmen des katarisch finanzierten Senders voller Erwartungen. Dienstagabend ist der Sendeplatz für die bekannteste, umstrittenste und meistverfolgte arabische Talk-Sendung, in der sich im Regelfall eine Pro- und ein Contra-Person über ein emotional geladenes, aktuelles Thema unterhalten, ja gegenseitig zerfetzen: „Die entgegengesetzte Richtung“.

Diplomatie als Talkstil

Doch während die ganze arabische Welt über die neue Krise am Golf laut rätselte, schwieg der von seinen Zuschauern noch vor wenigen Jahren als „Stimme der Araber und Muslime“ empfundene Sender. Schnell füllten sich die Straßen in den arabischen Städten wieder mit Passanten, die einige Minuten zuvor noch nach Hause hasteten, um die Sendung nicht zu verpassen. Grund: Nicht über die Krise am Golf wurde an jenem Abend debattiert, sondern über die mehr als eine Woche alten ägyptischen Luftschläge auf Terrorcamps im benachbarten Libyen. Eine Woche später war die Krise am Golf dann doch endlich Thema, die Zuschauer erkannten die Sendung allerdings kaum wieder. Moderator Faisal al-Qasim, der sonst bei Themen zu anderen Staaten wie Syrien, Ägypten oder dem Irak kein Blatt vor den Mund nimmt, wirkte trotz gegenteiligem Bemühen geradezu diplomatisch.

Zudem wurde die überfällige Diskussion über die gravierenden Vorwürfe an Katar geschickt links liegen gelassen. Stattdessen diskutierten zwei Akademiker allgemein und mit viel Jein-Meinungen und wenig Kontroverse über die Zukunft des 1981 gegründeten Golfkooperationsrats als Dachorganisation der sechs Golfstaaten. Nun war endgültig klar: Katar will keine Eskalation. Noch nicht. Das ist legitim, gewissermaßen begrüßenswert und kann durchaus auch medial zum Ausdruck gebracht werden. Nur, hier handelt es sich nicht um das katarische Staatsfernsehen, sondern um den Weltnachrichtensender Al Dschasira, der seit Ende 2006 sogar einen englischen Dienst unterhält und professionelle Distanz – auch zu seinem Finanzier – propagiert.

Gründungsslogan gilt nicht mehr

„Die Meinung und die Gegenmeinung“, so klang einst der Slogan von Al Dschasira in Anlehnung an die Notwendigkeit einer Diskussionskultur in der arabischen Welt. Bereits bei dem sogenannten Arabischen Frühling 2010/2011 bekam das Image von Al Dschasira als vermeintlich unabhängiger Sender erste Kratzer. Damals agierte der Sender zum ersten Mal plakativ als Instrument der expansiven katarischen Außenpolitik. Mit der jetzigen Krise am Golf agiert der Sender sogar wie ein Schutzschild. Der neue Slogan scheint mit jenem, den man heute in Übergröße auf vielen Gebäudefassaden in der katarischen Hauptstadt antrifft, identisch zu sein: Mit Gott für Emir und Vaterland! Hinter der Fassade sagt der eine vermutlich zum anderen: Stell das Radio auf BBC London ein, damit wir wissen, was bei uns in Katar los ist!

Aktham Suliman war Deutschland-Korrespondent von Al Dschasira. Heute arbeitet er als freier Journalist und Autor. Demnächst erscheint sein Buch „Krieg und Chaos in Nahost – eine Arabische Sicht“.

Aktham Suliman

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