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Von wegen guter Geschmack. Selbst gebildete Briten greifen gerne zu Boulevardzeitungen - angeblich nur aus Ironie.

© Reuters

Yellow Press: Eine verhängnisvolle Affäre

Geliebt und gehasst: Das zwiespältige Verhältnis der Briten zu ihren Boulevardblättern. Je lauter die Überschrift, je skandalöser die Fotos, desto eher werden die Menschen aufmerksam.

In mancher Hinsicht sind die Red Tops, wie die britischen Boulevardblätter wegen ihrer roten Headlines genannt werden, so britisch wie „Fish and Chips“, für die sie früher als Verpackung dienten. Vollgestopft mit Klatsch und Tratsch, Skandalen und versteckter Fremdenfeindlichkeit, erfüllen die Boulevardzeitungen den Wunsch nach einem speziell britischen Geschmack an Schadenfreude – und das seit einigen Jahrhunderten.

Als Rupert Murdoch die „News of the World“ 1969 erwarb, kaufte er sich in die Geschichte einer Zeitung ein, die bereits 1843 mit der Klatschverbreitung begonnen hatte. Als Königin Viktoria gerade den Thron übernahm und sich das britische Durchhaltevermögen verfestigte, war Ehrbarkeit die Fassade, und Skandalgeschichten waren nur schwer zu finden. Die „News of the World“ befriedigte das Bedürfnis nach ein bisschen Sex und Gewalt mit Gerichtsfällen und schlüpfrigen Geschichten, die im Verlauf der Jahre immer häufiger wurden. Die Alphabetisierung nahm zu, der Geschmack der Boulevardpresse wurde bald zu dem der Arbeiterklasse – obwohl neben dem Klatsch auch Nachrichten – ernste Themen sensationsheischend erzählt – auf der Titelseite zu finden waren. Doch während die Jahrzehnte vergingen, rutschten auch die Verkäufe ab. Um neue Leser zu gewinnen, setzen die Blätter immer weniger auf harte Nachrichten und immer mehr auf Klatsch und Unterhaltung. Geschichten, die von Lesern aus der Arbeiterklasse begierig aufgesaugt werden, aber auch von gebildeten Bürgern – angeblich aus Ironie.

Unterscheidet sich dies alles von Deutschland? „Bild“ verkauft täglich rund 2,9 Millionen Exemplare. Bei den pikanten Fotos auf der Titelseite des Blattes aus dem Axel Springer Verlag und der Kultur, Nicht-Journalisten für Bilder von Stars und Sternchen zu bezahlen, würde sich auch ein „Sun“-lesender Brite zu Hause fühlen – sofern er Deutsch versteht. Doch dass Journalisten die Polizei mit Geld bestechen, um an Informationen zu gelangen, ist in Deutschland noch nicht ans Tageslicht gekommen, zumindest nicht in der Art, wie es wohl Praxis bei "News of the World" war.

Wie steht es um die deutsche Boulevardpresse? Lesen Sie weiter auf Seite 2.

Trotzdem gibt es wesentlich weniger deutsche als britische „Yellow Press“. Ist Deutschland etwa weniger hungrig nach gedrucktem Schmutz, weil das frei-empfangbare Privatfernsehen eine Fülle an Trash-Formaten bietet? Eher nicht. Boulevard-Fernsehen ist auch in Großbritannien frei verfügbar und äußerst populär. Sendungen wie „Big Brother“ produzieren immer neue Promigeschichten, auf die sich die Boulevardpresse stürzt.

Ein entscheidender Unterschied liegt jedoch im Wettbewerb auf dem Zeitungsmarkt. In Großbritannien gibt es zahlreiche überregionale Boulevardblätter, sie werden nicht per Abonnement, sondern am Kiosk verkauft. Je lauter die Überschrift, je skandalöser die Fotos, desto eher werden die Menschen aufmerksam, lautet die Formel. Dieser Wettbewerb bedingt bei den Lesern womöglich ein Bedürfnis nach immer mehr und immer krasseren Geschichten, bei den Journalisten einen entsprechenden Stil.

Die Briten lieben ihre Stars zu Tode, wortwörtlich. Die Jagd nach einem gutem Pressefoto von Prinzessin Diana – ein Bild von ihr auf der Titelseite steigert die Verkaufszahlen enorm – brachte die Paparazzi dazu, hinter ihr her über die Straßen von Paris zu rasen. Als Diana bei der Verfolgungsjagd starb, heulte die Öffentlichkeit mit großer Wut auf – und beschuldigte die Medien, von denen sie gerade noch nicht genug kriegen konnten.

Diese Boulevard-Heuchlerei ist insbesondere was die königliche Familie angeht, weit verbreitet. Prinz Charles wurde wegen seiner privaten Telefongespräche mit Camilla diffamiert, Prinz Harry angeprangert wegen seiner Naziuniform-Verkleidung (wobei ganz nebenbei vergessen wurde, dass die Briten doch selbst gerne die Deutschen in schlechten Weltkriegs-Überschriften verspotten). Und dann wieder schwelgt man im Hochgefühl einer königlichen Heirat, als ob die Royals die besten Freunde wären.

Auch die Beziehung zur Privatsphäre ist in Großbritannien sehr eigenartig. Einerseits gilt schon ein Personalausweis als Zumutung, andererseits ist Großbritannien eine der Nationen mit der höchsten Anzahl an Überwachungskameras in Proportion zu ihren Bewohnern. Geschichten über das Privatleben anderer werden begierig verschlungen, doch als vergangene Woche heraus kam, dass „News of the World“ die Nachrichten auf dem Handy eines ermordeten Mädchens gehackt haben soll, war plötzlich die ganze Nation in Aufruhr.

Die Briten erfüllen vielleicht die stereotypischen Züge einer reservierten, aber fairen Nation der ehrlichen Tee-Trinker. Doch ihr Geschmack in Sachen Boulevardlektüre weist in eine ganz andere Richtung. Die Boulevardpresse war einmal so britisch wie die Beatles, aber nun könnte sich alles ändern, wie die Band schon einmal gesungen hatte: „Having read the news today, oh boy.“

Mark Espiner ist Brite und lebt in Berlin. Er arbeitet als Journalist unter anderem für den „Guardian“ und schreibt für Tagesspiegel Online die Kolumne „Espiner's Berlin“.

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