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„Schaffen wir das?“. Angela Merkel (Heike Reichenwallner) nutzt jede Gelegenheit zwischen ihren Terminen am 4. September 2015, um durch Telefondiplomatie eine europäische Lösung in der Flüchtlingsfrage zu finden.

© ZDF und Hans-Joachim Pfeiffer

ZDF-Dokudrama über Flucht: Merkels Stunden der Entscheidung

Tausende Geflüchtete brechen 2015 vom Budapester Bahnhof nach Deutschland auf, die Uhr für Angela Merkel tickt. Eine ZDF-Doku zeigt diesen historischen Moment.

Being Angela Merkel. Die Kanzlerin, die den „Schwarzen Riesen“ Helmut Kohl überwand, die Atomkraftwerke schleifte, die Wehrpflicht abschaffte – und in der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015 entschied, Tausende Flüchtlinge nach Deutschland einreisen zu lassen. Es gab ein Davor und ein Danach, trotzdem wird dieser eine Tag als wichtige Zäsur in der Flüchtlingspolitik gesehen. Von den Gegnern als Preisgabe des Landes, von den Befürwortern als humanitäre Tat.

Darüber ließe sich viel argumentieren, streiten – oder aber zeigen, wie es zu dieser Entscheidung kam. Das Dokudrama „Stunden der Entscheidung – Angela Merkel und die Flüchtlinge“ will genau das, jene quasi 24 Stunden nachzeichnen. Regisseur Christian Twente, der allerdings ein Händchen hat für historische Persönlichkeiten wie Martin Luther oder Karl Marx oder zeitgenössische wie Uli Hoeneß, führt in einer Parallelmontage zwei Perspektiven zusammen.

Da ist der Aufbruch Tausender Flüchtlinge vom Budapester Bahnhof Keleti nach Deutschland, schon tickt die Uhr für Angela Merkel, die an diesem 4. September einen der üblichen, langen Bundeskanzlerinnentage vor sich hat: reden und reisen quer durch Deutschland. Sie besucht unter anderem die Technische Universität München, hält eine Rede in Köln zum 70-jährigen Bestehen der CDU in Nordrhein-Westfalen.

Druck auf die Grenze

Dann kommen die Anrufe und Informationen vom „March of Hope“. Und je mehr sich die Flüchtlinge der deutschen Grenze nähern, desto mehr drängt die Frage: Nimmt Deutschland die Geflüchteten auf?

Das Dokudrama, hier nach dem Drehbuch von Sandra Stöckmann und „Zeit“-Journalist Marc Brost, hat gegenüber der Dokumentation den Vorteil, dass sie Unsichtbares qua Nachstellung sichtbar macht und Ungesehenes durch Wegziehen der vierten Wand zur Anschauung bringt. Auch das wieder eine Montage, weil eine Mischung aus faktischem und fiktionalem Geschehen. Was im Kanzleramt, im Flugzeug, im Auto, in der Wohnung der Kanzlerin alles gemacht und gesagt wurde, das ist nur stellenweise verbürgt und nur phasenweise auf Nachrichtenfilm festgehalten.

Warum gerade jetzt dieser Film, zu einer Entscheidung, die historisch war, aber wohl noch zu jung ist für die Geschichtsbücher? „Wir hatten das Gefühl, dass man nicht warten muss bis zum berühmten Jahrestag fünf Jahr danach, zehn Jahre danach“, sagte Stefan Brauburger, Leiter der Redaktion Zeitgeschichte beim ZDF, als er das Dokudrama in Berlin vorstellte.

„Stunden der Entscheidung“ scheut nicht das Risiko, die fürs Publikum vorhandenen Leerstellen zu füllen. Es sitzt mit im Auto, im Flugzeug, im Hinterzimmer, wo Merkel sitzt, redet und vor allem telefoniert. Die Kanzlerin wird quasi live geschaltet.

Das muss für jede Schauspielerin ein Traum und ein Albtraum sein. Denn die echte Merkel wird immer dann eingefügt, wenn es dazu Filmmaterial gibt. Prompt und permanent wird der Zuschauer zum Vergleich herausgefordert. Heike Reichenwallner ist eine bekannte, nicht aber eine sehr bekannte Theater- und Filmschauspielerin. Das hilft, sie muss nicht um die eigene Persönlichkeit herum auf die Kanzlerin zuspielen, sie kann ihre Version der Angela Merkel dem Publikum direkt zeigen. Das gelingt, je mehr die 90 Minuten voranschreiten, desto besser. In den Eingangssequenzen wirkt diese Merkel so gar nicht tough, erstaunlich medioker, schier täppisch. Der erste Eindruck verfliegt rasch – weil Reichenwallner ihre Darstellung zu Konsistenz und Konsequenz bringt. Sie ist nicht Merkel, sie spielt eine stimmige Interpretation.

Körperlich fast bedächtige Kanzlerin

Und was sie nicht spielt, das fügen Zeitzeugen aus dem Merkel-Zirkel per Interview bei. Peter Tauber, damals CDU-Generalsekretär, sagt, „ich glaube, die Kanzlerin ist genau darin gut, sich die Zeit zu nehmen, die sie braucht, um zu entscheiden“. Ex-Bundesinnenminister Thomas de Maizière betont, in Krisensituationen werde die Kanzlerin ganz leise und sehr ruhig, körperlich fast bedächtig. Damit wird beglaubigt, was die Bilder zeigen.

Auch der Gegenpart, die Flüchtlinge auf dem „Hope of March“, bekommt seine Zeitzeugenschaft. Der Initiator Mohammed Zatareih, im Film gespielt von Aram Arami, sagt: „Meine Kraft habe ich durch meine Verantwortung bekommen.“ Und er habe gewusst, „wenn jetzt etwas passiert, dann liegt alle Schuld auf mir“. Journalisten berichten von Verzweiflungsmomenten im Bahnhof Keleti, vom Aufbruch gen Österreich und Deutschland. Auch sie, die Geflüchteten, stehen unter Entscheidungsdruck: Das unwägbare Verhalten der Regierung Orbán ertragen – oder aufbrechen? Etwas Besseres als den Tod findst’ Du allemal...

Wobei dieser Teil der Rekonstruktion mehr Expedition bleibt als der Merkel-Teil, hier liegt der Fokus auf der Introspektion. Welch äußeres Geschehen und welche inneren Motive bewegen die Kanzlerin, wo holt sie Rat (zuerst bei ihrer Vertrauten Beate Baumann), wo Rückendeckung (bei den SPD-Ministern Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier), wo läuft sie ins Leere (CSU-Chef Horst Seehofer geht nicht ans Telefon)?

Der Heidenau-Mob und andere Konsequenzen

Die Konsequenzen der Entscheidung für Merkel werden über die Bilder vom Heidenau-Mob oder das Geifern von AfD-Chef Alexander Gauland („Wir werden sie jagen“) im Off beigesteuert.

Der Film verhält sich freundlich zur Kanzlerin, aber fern von jeder Hagiografie. Der frühere Chef des Bundesnachrichtendienstes, Gerhard Schindler, bejubelt die Bundesregierung nicht: „Ich finde, das gehört zu den Aufgaben der Politik, dass sie auch unschöne Bilder aushalten muss“, sagt er mit Blick auf weiter geschlossene Grenzen.

Die anderen Zeitzeugen, Journalisten und Politiker aus der damaligen schwarz-roten Koalition, beschwören die Zwangslage der Kanzlerin, wie sie zur Entscheidung mehr gedrängt wird und sie dann allein und entschlossen fällt. Die Einsamkeit der Macht wird spürbar. Wenn die Kanzlerin ihre Entscheidung „alternativlos“ nennt, dann sucht der Film nicht das Gegenteil. Interessant der Hinweis, dass sich die Kanzlerin bei den Flüchtlingen aus Syrien an die Menschen in der DDR erinnert fühlt, die auch in ein anderes Leben in Deutschland migrieren wollten.

Und ein Satz bleibt haften. „In einer politischen Krise gibt es viele Schlaumeier, die sagen: Das hätte man ja alles wissen können“, sagt Thomas de Maizière. „Vor allem hinterher.“
„Stunden der Entscheidung – Angela Merkel und Flüchtlinge“, ZDF, Mittwoch, 20 Uhr 15

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