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Krisengespräch. Dr. Nüssen-Winkelmann (Iris Berben, li.) gegen die Eltern Valerie (Ursina Lardi) und Simon Berlinger (Thomas Sarbacher). Schuldirektor Stege (Devid Striesow, re.) möchte kein Aufsehen erregen und versucht die Beteiligten zu beschwichtigen.

© ZDF und Conny Klein

ZDF-Film über Antisemitismus an Schulen: Lachen am Abgrund

Wie Antisemitismus an Schulen eskaliert: Eine ZDF-Tragikomödie mit Iris Berben gibt wichtige Denkanstöße.

Diese Berliner Schule bräuchte jetzt Stoßlüftung. Der Zuschauer spürt ihn sogleich, diesen kulturellen Coronadunst aus Ahnungslosigkeit und Heuchelei. Alles ohne Friede, ohne Freude sowieso. Die von Anna Brüggemann überzeugend gespielte idealistische Klassenlehrerin der 9c, Frau Annika Ritter, versucht es wenigstens mit Eierkuchen. Sie steckt Sandwichsticker mit Israelfähnchen auf Snacks mit nahöstlicher Anspielung. Schalom und Salam. Das Ehepaar Valerie (Ursina Lardi) und Simon Berlinger (Thomas Sarbacher) betritt den Raum fürs Krisengespräch. „Wir sind keine Israelis“, missbilligt Herr Berlinger die kulinarische Beflaggung. Er ist in Berlin lebender Jude, seine Frau zum Judentum übergetreten. Israel ist für beide nicht Heimat. Was das Essen hier solle, schnauzt auch Frau Dr. Gisela Nüssen-Winkelmann (Iris Berben) von der Schulaufsicht. Schuldirektor Stege (Devid Striesow) räumt sogleich die von Frau Ritter als Stimmungsaufheller gemeinten Köstlichkeiten ab. Auf den in einem Nebenraum stehenden Schaukasten. Dort liegen Ausstellungsstücke aus der Zeit der NS-Judenverfolgung.

Dieses grimmige Stück Klassefernsehen (Buch und Regie: Leo Khasin) bereitet sein Thema vor: Antisemitismus an Schulen. Komisch ist das nicht, aber komisch wäre es ebenfalls, Komik aus der TV-Lektion „Das Unwort“ zu verbannen. Sohn Max Berlinger (Samuel Benito) droht der Schulverweis. Er hat seinem Mitschüler Karim Ansari (Oskar Redfern) das Ohrläppchen abgebissen und einem anderen, seinem einstigen und nun treulos gewordenen Freund Reza Marschner (Victor Kadam) die Nase gebrochen.

Die Lehrerin Frau Ritter hat den Ausbruch von Schülergewalt angestoßen. Sie kündigte der Klasse mit einem an die Tafel geschriebenen Zitat die gemeinsame Lektüre des Anne-Frank-Tagebuchs an. Ein Shitstorm brach da bei einigen Schülern los. „Fälschung“ rief es, Juden lögen doch immer. Allen voran Karim, der Sohn palästinensischer Auswanderer. Da outete sich Max: Seine Großmutter sei Auschwitzhäftling gewesen.

Für einen kurzen Moment erstarrt die Szene. Dann beleidigt unfassbare Ahnungslosigkeit den Enkel Max. Was die KZ-Großmutter denn verbrochen habe, will eine Klassenkameradin allen Ernstes wissen.

Autor Khasin, 1973 in Moskau als Sohn einer jüdischen Familie geboren, 1984 nach Deutschland ausgewandert und heute in Berlin praktizierender Zahnarzt, kann Jugendlichen auf den Mund schauen. Der Zuschauer vermag in Dialogen hören, was möglicherweise „Lost“-sein heißt, diese zum Jugendwort des Jahres 2020 gewählte Selbstbeschreibung einer heutigen jungen Generation. Was immer das heißt, Geschichte basiert im „Unwort“-Film auf wenig Sachkenntnissen, dient dort als Waffe im Wettbewerb um die größte Klappe.

Das Drehbuch schildert diese Schülerwirklichkeit ohne Hochmut und Spott. Die jungen Leute wissen meist nicht genau, was sie tun, weil die Eltern es auch nicht wissen. Die Schule erst recht nicht. Den im Schulverweisungsverfahren über Max und seine über Missetaten zu Gericht Sitzenden gilt weit mehr der Spott des Autors und Regisseurs. Khasin bedient sich einer Wutdramaturgie, die an das „Aufklärungsschlachtfest“ des 2006 uraufgeführten Theaterstücks „Der Gott des Gemetzels“ von Yasmina Reza erinnert: Die „Unwort“-Eltern zerfleischen sich nach dem Zusammenbruch der bürgerlichen Fassade wie wilde Tiere.

Das Schul- und Schuldgemetzel folgt wohlüberlegter Konstruktion. Hertha-Fan Berlinger senior wünscht sich einen kämpferischen Sohn, nicht dessen Opfertum. Seine Frau dagegen, die zum Judentum aus Begeisterung übergetretene Löwenmutter, will für ihren Spross bestmöglichen schulischen Schutz vor den Bedrohungen des Antisemitismus. Den schulde ihr Ursprungsland Deutschland den Juden unbedingt.

Das deutsche Gymnasium hat bei der Beförderung der Gerechtigkeit Probleme. Dem Direktor Stege geht es um den guten Ruf der Schule. Er nötigt die jüdischen Schüler, in der großen Pause in den Chemieraum und schließt sie zum Schutz vor Anfeindungen ein. An der jungen Lehrerin Frau Ritter bleibt alles hängen. Alleingelassen von erfahrenen Kolleginnen baut sich das Gebirge aus historischer Schuld vor Ritter auf, das sie nicht verursacht hat, aber ein Stück weit abtragen wollte. Alles ziemlich vergeblich: mit „Schindlers Liste“-Kinobesuchen und geplanter Anne-Frank-Lektüre.

Schlussszene: Ein Jahr später schreibt die arme Ritterin wieder den Satz aus dem „Tagebuch der Anne Frank“ an die Tafel: „Solange es das noch gibt, diesen wolkenlos blauen Himmel, darf ich nicht traurig sein.“ Von wem das sei, fragt die Lehrerin. Karim, ausgerechnet der Junge aus Palästina, weiß es. Er spart sich diesmal kritische Bemerkungen. Lächeln. So enden Komödien, auch wenn der Himmel nicht blau ist.

„Das Unwort“,

Montag, ZDF, 20 Uhr 15

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