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Zeitgeschichte: Kalter Schreibkrieg an der Spree

Der Schah-Besuch, der Todesschuss auf Benno Ohnesorg, junge Unruhen, alte Vorbehalte – die Fronten gingen 1967 auch durch die Zeitungsredaktionen in West-Berlin. Jürgen Engert, ehemals Chefredakteur des SFB, 1961 bis 1980 beim Blatt "Der Abend“, erinnert sich.

Was wäre denn geschehen, wäre nach dem 2. Juni 1967 bekannt geworden: Der Polizist Karl-Heinz Kurras, der den Studenten Benno Ohnesorg erschoss, ist Mitglied der SED und für Erich Mielke arbeitet er auch noch? Für die Antwort muss Fantasie nicht ins Kraut schießen. Weil es für die Antwort zwei feste, berechenbare Größen gibt: West-Berlin auf der einen Seite, die Dutschkisten auf der anderen. Sammelbegriffe. Untrennbar miteinander verwoben.

Erinnerung. West-Berlin 1967. In der Redaktion von „Der Abend“ schreiben wir, wie die anderen stadttragenden Blätter, weiterhin und strikt „West-Berlin“. Auf den Bindestrich wird Wert gelegt. Allerhöchsten. Rechtschreibung als Schild, durchgehalten gegen das bösartige „Westberlin“ der DDR. Womit die Genossen Berlin für sich als ein Ganzes und als ihre Hauptstadt ausweisen wollen, um zugleich „Westberlin“ zu einem Blinddarm, zu einer selbstständigen politischen Einheit zu degradieren. Kalter Schreibkrieg an der Spree.

In der Redaktion der Chef vom Dienst. Über ein Manuskript gebeugt. Er gerät in Wallung: „Bindestrich! Ein für allemal: Bindestrich! Wir sind hier nicht in Hamburg!“ Der Volontär zieht den Kopf ein. Er stammt aus Hamburg. An den Trocken-Kartoffeln während der Blockade 1948/49 hat er nicht mitgekaut, und als die Grenze in Beton gegossen wurde, war er an der Alster Abiturient. Er kommt also von weither. Aus einer anderen Welt. Aus „Westdeutschland“. Eine Benennung, mit der Anderssein markiert wird. Anders Denken, anderes Fühlen.

West-Berlin: Keine selbständige politische, aber eine selbständige soziale Einheit. Mit einer geschlossenen Gesellschaft. Untergehakt, solidarisch in einer Front. Krise akut, Krise latent, kritisch ist es permanent. Die Zeitungen mit einem Schuss Lenin: Organisator und Agitator; mal mehr, mal weniger. In Hab-Acht. Zum Zwecke der Selbstbehauptung. Zur Existenzsicherung einer Insel, die nicht weiß, wann und wie und ob sie wieder zum Festland wird. Das Wogegen ist klar. Das Wofür verschwimmt im Nebel. Kollegen aus München und Frankfurt fragen mitleidig-auffordernd: „Wie lange wollen Sie denn in dieser Sackgasse bleiben?“ Jeder Möbelwagen gen Westen aber ist ein Stich ins West-Berliner Herz. Aber es gibt Zuzug. Allerdings mit kleinem Gepäck. Die, die der Regierende Bürgermeister Willy Brandt nach dem Bau der Mauer rief. Jeder deutsche Student einmal in Berlin! Sie kamen zuhauf zum politischen Nachhilfeunterricht, der sich bei nicht wenigen im Engagement als Fluchthelfer niederschlug. Sie haben jetzt Nachfolger.

Bei ihnen hat sich herumgesprochen: Auch das ist West-Berlin – ein Abenteuerspielplatz. Der Reiz des Eilands. Weite in der Begrenzung. Darin kann jeder nach seiner Fasson selig werden. Wurschtigkeit. Kommen wir nicht heute, kommen wir morgen, und vielleicht kommen wir gar nicht. Stillosigkeit als Stil. Du bist verrückt, mein Kind, du musst nach Berlin, dort, wo die Verrückten sind, da gehörste hin. Natürlich! Dieser Spießer-Republik den Rücken kehren und Heureka: West-Berlin. Mit oder ohne Bindestrich. Freiheit!

Die Niederlassung der Juvenilen mit ihren merkwürdigen verschiedenen Idiomen lässt die Einheimischen kalt. Wen interessiert’s, dass Studenten an der Freien Universität besonders aus den Schriften des Philosophen Ludwig Marcuse ihre Beförderung zur „revolutionären Intelligenz“ beziehen, der aufgegeben ist, dem „herrschenden System“ die „Charaktermaske“ vom Gesicht zu reißen. Durch Provokation. Aber mit Lust. Wen interessiert’s, dass den Worten gewaltige Taten folgen, gegen Sachen und Personen, dass die Universität zum Kampfplatz wird? Eine Masse an Lesern finden die Berichte darüber nicht. „Gar nich ignorieren“, sagt der einheimische Werktätige, den die marxistisch-leninistisch-maoistische „Elite“ von der „repressiven Toleranz“ befreien will. FU, das ist j. w. d., ganz weit draußen. Eine Insel auf der Insel. Das hat sich 1967 schlagartig geändert. Die selbsternannte Avantgarde ist von ihrem FU-Basislager in die Stadt hinein ausgeschwärmt und mit Aktionen präsent geworden. Nach den Teach-ins, den Sit-ins in den Hochschulen Demonstrationen in den Straßen ohne Ende. Die Eingeborenen, für die sich seit 1945 Störung an Störung reiht, von außen, sie haben Ruhe zur ersten Bürgerpflicht erklärt. Und sie sehen rot, blicken sie auf ein Meer von roten Fahren unter ihren Fenstern: Kommunisten! Und es wird zugeschlagen. Notwehr! Bauarbeiter verlangen von der Stadtregierung freie Hand.

1967. Staatsbesuche. Die sind gut. Die sind schön. Sie sind Stecken, an die sich wunde West-Berliner Seelen halten. Wir sind doch wer! Zuerst kommt Hubert H. Humphrey, Amerikas Vizepräsident. Soeben hatten die Zeitungen zu einer Spendensammlung aufgerufen. Die Freiheitsglocke im Rathaus Schöneberg en miniature und in Porzellan wird in die USA geschickt. Als Zeichen der Verbundenheit mit den Familien, deren Männer in Vietnam kriegen. Zweifel in der Redaktion. Die Jungen im Clinch mit den Alten. Debattenkultur: Müller-Jahrbusch, erster Chefredakteur und Verleger vom „Abend“. Der habe, wenn er ins „Haus der Schönheit“ in Tempelhof gegangen sei, sich die Haare schneiden zu lassen, immer Botenmeister Bracke mitgenommen. Der habe neben ihm gesessen, mit einem Knüppel bewaffnet, weil Entführungen in den russischen Sektor keine Seltenheit waren. Und Müller-Jahrbusch gegen die da drüben mit scharfer Klinge schlug – Was denn das mit Vietnam zu tun habe? – Sagt Ihnen Bautzen was? Ohne die Amis ist hier zappenduster. Ohne Rosinenbomber hätten wir hier den Kitt aus dem Fenster fressen können. Können Sie sich das in Ihrem Alter überhaupt vorstellen? Ende der Durchsage: Alter Ober sticht jungen Unter.

„Ho – Ho – Ho – Tschi – Minh“ skandieren protestierend die Linksaußen. Das Senatspresseamt verlautbart: Attentatsplan gegen Amerikas Vizepräsidenten. Die Nachricht wird nachgedruckt. Abscheu und Entsetzen. Der Repräsentant der Schutzmacht an Leib und Leben bedroht. Die Schützlinge sind im Schleudern. Bis sich herausstellt: Die Anarchisten der Kommune I um Fritz Teufel, Rainer Langhans und Dieter Kunzelmann wollten Humphrey einen Pudding ins Gesicht klatschen. Missverständnisse beim Abhören von Telefonaten der polizei- und stadtbekannten Kommunarden.

Nach Humphrey Staatsgast Nummer zwei: Der Schah von Persien. Dass der ein Diktator ist, na ja. So genau sollten wir das nicht nehmen. Wir, die wir angewiesen und deshalb erpicht sind auf Unterstützung. Das Hemd sitzt uns näher als der Rock. Und denkt daran: Dort drüben lauern die Genossen von der anderen Feldpostnummer nur darauf, uns das Wasser abzugraben. „Ich bewundere diese Stadt.“ Der Schah sagt’s, und als Schlagzeile steht’s in der Zeitung. Siehste!

Die Redaktion hat mehrere „Frontberichterstatter“. Auf der Leiter mit drei Stufen: Auflauf, Krawall, Straßenschlacht. Die Folge wird auch vor der Deutschen Oper in der Bismarckstraße eingehalten. Gala-Aufführung der „Zauberflöte“ für das persische Kaiserpaar. Zuvor redet die Polizei von einem möglichen Attentat auf den Schah. Rudi Dutschke, Leitfigur der Linksrevolte, soll zum „Angriff“ geblasen haben. Der Kompass der Politiker kreiselt. Die Polizei hat ihr Feindbild. Die Menge vor der Oper hat es auch. Wechselseitiger Hass. Hemmungslos schlagen die Beamten zu. Danach wird Polizeipräsident Duensing feststellen: „Nehmen wir die Demonstranten wie eine Leberwurst, nicht wahr, dann müssen wir in die Mitte hineinstechen, damit sie an den Enden platzt.“

Der Tod von Benno Ohnesorg wird zunächst verschleiert. Der Regierende Bürgermeister Heinrich Albertz deckt in einer Erklärung die Polizei ohne Wenn und Aber, und somit auch den Schießer Kurras. „Die Geduld der Stadt ist am Ende.“ Damit gibt er auch den Tenor vor. Sie können sicher sein, die absolute Mehrheit der Insulaner auf ihrer Seite zu haben. Wir scheiden aus diesem Chor aus. Mit Verzögerung, auf Drängen des Verlegers Franz Karl Maier, steuert der Tagesspiegel um.

In den Tagen nach dem 2. Juni entsteht eine Kluft zwischen liberalen Blättern, die auf eine Isolation der Masse der Außerparlamentarier von den fanatischen Ideologen aus sind, durch Argumentation, durch Aufnehmen von Meinen und Wollen, und den konservativen Zeitungen unter dem Dach des Springer-Konzern, die die Parole variieren: Raus mit der Sippschaft, die Fremden, die zu uns West-Berlinern nicht gehören. Zueinander steht man nur noch bemüht auf Grußfuß. Die Verhärtung und Verbitterung von Springer-Journalisten, obwohl sie gegenüber der Leserschaft wahrlich nicht auf verlorenem Posten sind, ganz im Gegenteil, wie gefördert durch Kampagnen von fanatischen Kämpfern nebst Anhang. So, als hätten Springer-Journalisten die Pistole gehalten bei Karl-Heinz Kurras, später, am Gründonnerstag 1968 bei Josef Baumann, dem Gelegenheitsarbeiter, der mit drei Schüssen Rudi Dutschke auf dem Kurfürstendamm schwer verletzte. Springer als „Inkarnation des Monopolkapitals“, „Springer vor ein Tribunal“, „Enteignet Springer“, Angriffe auf den Verlag, versuchter Sturm auf das Hochhaus in der Kochstraße nach dem Zusammenbruch von Dutschke mit ungewissem Ausgang.

Wie hätte sich die Geschichte entwickelt, wäre danach Kurras als SED-Genosse und Stasi-Spitzel entlarvt worden? Wären die Bornierten und Militanten, beides ging bei Vorläufern der Revolution meist Hand in Hand, beeindruckt gewesen, nachdenklich geworden: Nein. Nie und nimmer. „Formaldemokraten“ im Westen und „Formalkommunisten“ im Osten feuern im Verein auf uns, die wir stets auf der richtigen Seite sind, dort, wo die Wahrheit ist, da sind wir. Basta.

Jürgen Engert

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